© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Als Leipzig in der Glut versank
Eine aktuelle Untersuchung über die Vernichtung Leipzigs durch britische Bomben vor siebzig Jahren
Sebastian Hennig

Am 4. Dezember vor siebzig Jahren heulten früh um 3 Uhr 45 die Sirenen über Leipzig. Ein Turmbeobachter meldete: „Ohne daß vorher Leuchttrauben geworfen wurden, erhellt sich fast das gesamte Stadtgebiet auf einmal.“ Bald darauf jedoch hatte der Beobachter durch die Rauchentwicklung keine Sicht mehr. Es vollzog sich unterdessen der schwerste Luftangriff auf Leipzig, der in einer knappen halben Stunde fast die Hälfte der Gebäude der Innenstadt zerstörte.

Ein ungenannter Briefschreiber faßt es am 9. Dezember zusammen: „Bibliographisches Institut, Spamer, Verlag Staackmann, Koehler & Amelang, Seemann, der neue Bau von Koehler & Volckmar, Insel-Verlag, alles ist vollkommen ausgebrannt und zum Teil eingestürzt. (…) Das ganze Buchhändlerviertel ist radikal beseitigt (...) die Reichsmesse- und Buchhändlerstadt Leipzig hat aufgehört zu existieren.“ Ein Band mit Fotografien und Berichten aus dem Leipziger Lehmstedt Verlag erinnert an diesen Untergang. Dabei wirken die drei Frontispiz-Bilder mit den Strahlenfächern der Flakscheinwerfer zwischen Kroch-Hochhaus und Neuem Theater und den vom Feuerschein kontrastierten Silhouetten von Matthäikirche und Altem Rathaus wie hochästhetische Fotogramme. Für das gestaltlose Grauen selbst gibt es nur wenige Bilder. Der Band verzichtet darauf und zeigt dafür die Anblicke des ausgebrannten und beräumten Geländes als Bestandsaufnahme. Die ausgebrannten Mauern der Verlagsgebäude E. A. Seemann, Velhagen & Klasing, Otto Harrassowitz und F. A. Brockhaus sind zu sehen. Auf den geräumten Straßen durcheilen winterlich gekleidete Menschen einen von leblosen Fassaden flankierten Nichtort, der einmal Leipzig war. Auf einem Bild verkehrt bereits wieder die Straßenbahn vor der unversehrten Paulinerkirche, die dann 1968 von den Kommunisten gesprengt werden sollte.

Bemerkenswert ist das Tagebuch, welches der 72jährige Privatier Hans Georg von Feilitzsch über den Angriff und seine Folgen führte. Während er viele antrifft, die erstarrt sind vor Schrecken, deren Klagen und Tränen versiegt sind, versucht das distinguierte Ehepaar in der nur leicht beschädigten Wohnung ihr gewohntes Leben fortzusetzen. Er klagt in wohlgesetzten Worten über die Unbequemlichkeiten: „Die Unhöflichkeit der Gewerbetreibenden nimmt immer mehr zu. Der Dienst am Kunden ist zum Kunden im Dienst geworden.“ Am 18. Januar schließt von Feilitzsch seine Aufzeichnungen mit fast kurios anmutendem Bedauern: „Gern hätte ich Photographien beigelegt, da aber das Photographieren von oben her verboten ist, war es nicht möglich. Wir können also den Feinden nie im unbeeinflußten Bilde zeigen, welche indianische Gemeinheiten sie begangen haben.“

Der vorläufige amtliche Abschlußbericht vom 30. Dezember 1943 verzeichnet unter den Abwurfmitteln auch „Flugblätter in großen Mengen“. Das dokumentiert einmal mehr die propagandistische Absicht des Schreckens aus der Luft. Dem Ringen um die Deutung der Ereignisse ist auch die deutsche zeitgenössische Bildberichterstattung unterworfen. Sie vermittelt vor allem den Anschein der bewahrten Ordnung und ist bemüht, die vom Bomberstrom geschlagenen Wellen weitestgehend zu glätten. Zwischen den vielen makellos gestalteten Arbeiten professioneller Lichtbildner sind wenige Laienfotos enthalten. Deren Kunstlosigkeit und Unschärfe entsprechen weit eher dem spontanen Blick auf ein erschütterndes Ereignis.

Auch der Lützschenaer Lehrer und Heimatkundler Paul Kröber hat fotografiert. Sein Bericht aus den Wochen nach dem Angriff beginnt mit der Feststellung: „Noch am 4. und 5. wurden Maueranschläge auf rotem Papier angeklebt, die den Plünderern die Todesstrafe androhten und das Photographieren verboten. Schon beim ersten Lesen dachte ich an die Aufgabe, Bilder von den grauenhaften Zerstörungen für die kommenden Geschlechter und als Beweis für die Tätigkeit des Feindes aufzunehmen, hatte ja Wagner von den Zerstörungen 1813 auch Kupferstiche hinterlassen.“

Kröber wußte sich am 20. Dezember die polizeiliche Genehmigung dafür zu erwirken. Dennoch wurde er immer wieder nicht nur von Offizieren, sondern auch von Berufsfotografen bei seinen Aufnahmen behindert. In klarer Abgrenzung der verschiedenen Arbeitsmotive erwidert er diesen: „Nur keinen Konkurrenzneid! Das ist Sache der Stadtgeschichte.“

Durch zivilen Ungehorsam vermochten viele Leipziger dem sicheren Tod zu entrinnen. Sie verließen lange vor der Entwarnung die Keller und bekämpften selbständig die Brandherde. Es entwickelte sich dennoch ein Feuersturm, der als stärker eingeschätzt wurde als jener, der im Sommer zuvor während der „Operation Gomorrha“ Hamburg verwüstete. Sechs Aufklärungsbilder der Royal Air Force vom 20. Dezember beschließen den Band. Sie zeigen den unbarmherzigen Fernblick auf das unternommene Zerstörungswerk. Ein gewissenhaftes Ortsregister ermöglicht die Zuordnung einzelner Stätten in den Fotos und Berichten der Zeitgenossen.

Mark Lehmstedt (Hrsg.): Leipzig brennt. Der Untergang des alten Leipzig am 4. Dezember 1943 in Fotografien und Berichten. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2013, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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