© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Einigung im Atomstreit mit dem Iran
Es gibt nur Worte, keinen Vertrag
Jürgen Liminski

Für religiöse Minderheiten im islamischen Gürtel zwischen Casa­blanca und Taschkent ist die Taqia, die Kunst der Verstellung, eine Frage des Überlebens. Vor allem die Drusen und die Schiiten haben die Taqia zur Tugend erhoben. Sie ist nahezu genetisch eingebrannt in das Bewußtsein dieser Minderheiten, für die Mullahs im Iran etwa ist sie zur zweiten Natur geworden. Diesem Denken liegt eine utilitaristische Weltanschauung zugrunde. Muslime haben ein anderes ethisches Wertefundament. Es gilt nicht wahr oder falsch, gut oder schlecht. Gut ist nur, was dem Islam nutzt.

Das sollte man wissen, wenn man mit Schiiten verhandelt, und vor diesem geistigen Hintergrund sind die Signale einzuschätzen, die seit der Wahl des neuen iranischen Präsidenten Hassan Rohani von Teheran ausgesandt werden und die auch die Atomgespräche in Genf überstrahlten: Von einer „heroischen Flexibilität“ war die Rede, die Revolutionsführer Chamenei für die Atomverhandlungen predigte. Das Ergebnis von Genf wurde in Teheran und in Europa als „historisch“ gewürdigt.

Das Abkommen von Genf ist kein Vertrag, es ist ein Arbeitspapier. Es zählt Optionen auf – und das im Konjunktiv. Ein Stopp der Zentrifugen gegen die Lockerung der Sanktionen wäre der Minimal-Deal gewesen. Doch selbst das wurde nicht erreicht.

Ist es das wirklich? Oder ist das nur in den Köpfen westlicher Diplomaten so, ähnlich wie seinerzeit, als man „peace in our time“ verkündete? Als Daladier und Chamberlain Ende September 1938 von München nach Paris und London zurückkehrten, da wurden sie gefeiert wie Helden. Schon ein halbes Jahr später war das Münchener Abkommen Makulatur, und wieder ein halbes Jahr darauf brach der große Krieg aus. Die Appeasement-Politik ging als Beispiel fataler Naivität in die Geschichte ein. Wiederholt sich die Geschichte jetzt bei den Atomverhandlungen mit dem Iran?

Das Abkommen von Genf ist kein Vertrag, es ist ein Arbeitspapier. In einem Vertrag wird genau mit Datum und Fakten gearbeitet, werden Ziele verbindlich festgeschrieben. Das Papier von Genf aber zählt Optionen auf – und das im Konjunktiv. Wer die Taqia-Mentalität der Mullahs ins Kalkül zieht, der muß verifizierbare Fakten festschreiben und einen Zeitplan für ein konkretes „Do ut des“ aufstellen. Das ist nicht geschehen. Die Mullahs bestimmen den Zeitplan, so wie schon seit mehr als zehn Jahren. Sie wollen die Zentrifugen erst Ende Dezember abschalten, und das auch nur teilweise. Die Aufhebung der Sanktionen soll aber schon jetzt erfolgen. Man fragt sich: Wozu brauchen die Iraner überhaupt angereichertes Uran? Sie haben mehr als genug Energierohstoffe.

Weitere Forderungen der Westmächte sind: Unbeschränkter und unkontrollierter Zugang der IAEO-Ingenieure zu den Nuklearanlagen, auch den unterirdischen; ferner Zugang zu Militäranlagen wie Parchin, wo offenbar in einem Druckbehälter Versuche für einen Nuklearzünder angestellt wurden; schließlich Zugang zum Schwerwasserreaktor Arak, mit dem man ebenfalls an kernwaffenfähiges Plutonium gelangen kann. Israel verlangt zusätzlich noch, daß das bereits angereicherte Uran außer Landes geschafft werde. Erst wenn Teheran auf diese Forderungen konkret und verifizierbar eingegangen wäre, hätte man die Sanktionen aufheben können. Denn diese Zugeständnisse wären, anders als das Münchner Abkommen, weit mehr als Worte gewesen. Sie wären die Probe auf das Versprechen „peace in 2014“ gewesen.

Ein Stopp der Zentrifugen gegen die Lockerung der Sanktionen – das ist der Minimal-Deal. Doch selbst das wurde nicht erreicht. Wie kann es nun weitergehen? Die amerikanischen Dienste haben ausgerechnet: In fünf Monaten hätten die Iraner die Bombe. Die israelischen Dienste sagen, schon in zwei Monaten sei es soweit. Aber das seriöse amerikanische Institut für Wissenschaft und internationale Sicherheit (ISIS) kommt zu dem Schluß, daß die Iraner genügend angereichertes Uran hätten, um bereits in drei Wochen eine Atombombe anzufertigen. Mit anderen Worten: Zwischen Ende Dezember und Ostern 2014 kommt die Offenbarung, entweder mit dem Abbruch der Verhandlungen von iranischer Seite oder mit einem israelischen Luftangriff. Selbst wenn US-Präsident Obama, dessen Zaudern in der Syrien-Krise in Teheran sehr aufmerksam beobachtet wurde, sich über den Tisch ziehen lassen sollte – die Israelis sind bereit für einen Luftschlag. Syriens C-Waffen sind gefährlich, Irans Bombe wäre tödlich.

Die Israelis kennen die Taqia. Auch die Saudis schätzen die Mullahs so ein und wollen die Vernichtung der Nuklearanlagen, die anderen Ölmonarchen am Golf ebenfalls. Sie drängen Jerusalem zum Handeln. Ein Zweckbündnis bahnt sich an, das auch die Ölwaffe der Mullahs stumpf machen kann. Die Saudis werden einfach mehr Öl auf den Markt werfen, um die Preise zu halten und nicht in krisenhafte Höhen schnellen zu lassen.

 

Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, Diplom-Politologe, ist Publizist, Radio-Moderator und war Ressortleiter für Außenpolitik beim Rheinischen Merkur und bei der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Bildungschipkarte („Fahrschein in den Sozialismus“, JF 38/10).

 

Nach der Einigung zwischen der Sechsergruppe und Teheran ist der Kampf um die Deutung der Genfer Vereinbarung ausgebrochen. EU und USA gaben sich zuversichtlich, das Interimsabkommen sei ein bedeutender erster Schritt und schaffe Zeit, um eine endgültige Lösung des Atomkonflikts mit dem Iran auszuhandeln. Kritiker wenden ein, Teheran habe vor allem Zeit gewonnen, um Fakten zu schaffen und sich atomar zu bewaffnen. War Genf der große Durchbruch für eine sicherere Nahostregion? Ja, meint der Publizist Günther Deschner. Oder ist die Sechsergruppe mit Zugeständnissen zu weit gegangen und hat am Ende nichts in der Hand? Das meint der bekannte Radiomoderator Jürgen Liminski. (JF)

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