© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Der Balkan als Erbe
Hundert Jahre nach den Balkankriegen entdeckt die Türkei den Südosten Europas und seine moslemischen Bevölkerungsteile als Hegemonialzone
Nikolaus Heinrich

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war der türkische Sultan und sein Reich in Europa vielen als der „kranke Mann am Bosporus“ geläufig. Das Osmanische Reich hatte bis dahin große Teile seines einst riesigen Herrschaftsgebietes verloren: vor allem Südosteuropa (bis auf einen kleinen Streifen um Konstantinopel/Istanbul) und Nordafrika, deren Ausscheiden aus dem türkischen Staatsverband erst zwischen 1908 und 1913 endgültig geworden war.

Verblieben waren Anatolien und der Nahe Osten – bis zum Ende des Krieges, danach nämlich schrumpfte die Türkei auf die heutige Größe zusammen. Zwar konnte die neue Führung unter Kemal Atatürk weitergehende Begehrlichkeiten der Siegermächte und vor allem des Nachbarn Griechenland abwehren, doch der Status einer Großmacht war, wie es schien, unwiederbringlich dahin.

Unter Atatürk und seinen Nachfolgern konzentrierte sich die Türkei auf sich selbst. Hatte zunächst die Siegerkoalition des Ersten Weltkriegs der Regierung in der neuen Hauptstadt Ankara dazu keine Alternative gelassen, war es nach 1945 die Konfrontation der Blöcke im Kalten Krieg, die sich ähnlich auswirkte. Zudem verstand sich die Türkei nunmehr zuvorderst als Nationalstaat, der sich um Türken kümmern müsse, nicht mehr als islamische Macht, die Glaubensgenossen außerhalb der eigenen Grenzen zu unterstützen habe. Türken außerhalb der Türkei jedoch gab es außer auf Zypern lange Zeit nur wenige – Vertreibung, Umsiedlung und Völkermord hatten schon nach dem Ersten Weltkrieg dafür gesorgt, daß kaum noch türkische Minderheiten in anderen Staaten existierten. Erst die umfangreiche Auswanderung von Gastarbeitern nach Deutschland und Österreich sollte das ändern.

Garant für diese Ordnung war die seit Ende des Ersten Weltkriegs herrschende kemalistische Elite, die enorme Energien verbrauchte für die schwierige Gratwanderung zwischen einer islamisch-konservativen Bevölkerung und einem europäisch geprägten, laizistischen Nationalstaatsgedanken – und sich dabei abschottete gegen andere Kreise der Bevölkerung, die die Gewichtung zwischen beiden Polen zu verändern wünschten. Fundamentale Opposition wurde brutal ausgeschaltet, sogar gelegentlich eine Regierung abgesetzt. Von seiten der verbündeten Europäer und Amerikaner kam dagegen nur laue Kritik, schließlich war Ankara ein wertvoller Verbündeter gegen den sozialistischen Ostblock. Das aber änderte sich in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Von nun an war es nicht mehr möglich, islamistische Parteien von der Macht fernzuhalten.

Einstige Größe als Vorbild für künftige Einflußsphären

Der Zusammenbruch der starren Blöcke des Kalten Krieges schuf eine neue Weltordnung, in der auch der Türkei eine eigenständige Außenpolitik möglich wurde. Die Wohlfahrtspartei (RP) in den 1990er Jahren und danach die bis heute regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) definierten die Schwerpunkte türkischer Politik anders als ihre jahrzehntelang herrschenden Vorgänger: Sie erkannten im Islam eine Kerneigenschaft der Türken, und sie waren nicht länger bereit, genau diese Kerneigenschaft aus der staatlichen Politikgestaltung auszuklammern. Damit aber verließ die türkische Politik den Rahmen des Nationalen, sie erhielt Anknüpfungspunkte im islamisch geprägten Ausland.

Freilich ist Ankara bis heute keine anerkannte Führungsmacht in der islamischen Welt. Dazu fehlt der Türkei die Sympathie anderer moslemischer Akteure – die sich wie die Araber noch gut an die Zeiten türkischer Fremdherrschaft vor dem Ersten Weltkrieg erinnern oder wie der Iran eigenständige Machtzentren bilden. Folglich bleiben die Anknüpfungspunkte auf Völker und Staaten beschränkt, in denen das Osmanische Reich in guter Erinnerung ist. Das aber sind vor allem die moslemischen Staaten und Völker Südosteuropas.

Wenn die Deutschen an die Türken denken, dann meinen sie die Bewohner der Türkei und die nach Mitteleuropa eingewanderten Gastarbeiter. Nur selten blitzt die Erinnerung durch, daß der Staat am Bosporus einst weite Gebiete Südosteuropas beherrscht hatte – und dort bis heute sichtbare Spuren hinterließ, die nicht nur historisch von Interesse sind. Gerade Bosnien ist ein gutes Beispiel für türkisches Engagement auf dem Balken: Schon seit 1992 begleitet Ankara die moslemischen Bosniaken bei der Sicherung ihrer durch Serben und Kroaten gefährdeten Existenz.

Zunächst geschah das militärisch, im Rahmen der SFOR und ihrer Nachfolgeeinsätze, bald aber auch durch Entwicklungshilfe. Allerdings bleibt die zum Kummer mancher Bosniaken oft auf prestigeträchtige Kulturförderung und in türkisch-islamischem Sinn geprägte Bildungsarbeit beschränkt. Die Wirtschaftsförderung Ankaras verbucht allenfalls bei Großprojekten wie Flughäfen Erfolge, während private Anleger aus der Türkei das Dickicht bosnischer Korruption und Bürokratie angesichts geringer Gewinnchancen bislang eher scheuen.

Die türkische Bosnienpolitik knüpft ganz bewußt an das Erbe des Osmanischen Reiches an. Sie ist ein Projekt politischer Eliten, nicht zuletzt der AKP. Die durch Bevölkerungswachstum und wirtschaftlichen Aufschwung sich selbst findende Türkei nutzt den Raum, der ihr seit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs zufällt. Sie wandelt sich im Inneren durch Re-Islamisierung und Verdrängung alter Oberschichten, sie gewinnt Selbstbewußtsein im regionalen Konzert der Staaten. Was also liegt näher, als Zeiten einstiger Größe als Vorbild für künftige Einflußsphären ins Auge zu fassen – Zeiten, als das Osmanische Reich eindeutige Führungsmacht in Südosteuropa, ja überhaupt im gesamten östlichen Mittelmeerraum war?

Moslems auf dem Balkan mit Bevölkerungswachstum

Mittlerweile gehört es jedoch zum guten politischen Ton, von Hegemonialstreben und Großmachtträumen nicht zu reden und entsprechende Ambitionen eifrig zu dementieren. Das ist gerade in bezug auf die südosteuropäische Staatenwelt durchaus angebracht – denn das Osmanische Reich erscheint nur den Türken und den Moslems des Balkans als „Goldenes Zeitalter“, die übrigen Völker verbinden es eher mit Unterjochung. Die türkische Herrschaft hatte im ausgehenden 14. Jahrhundert im Südosten des Balkans begonnen, sich dann im 15. Jahrhundert über Griechenland, Bosnien und Südserbien ausgedehnt und hundert Jahre später sogar große Teile Ungarns umfaßt.

Erst seit dem Türkenkrieg 1683 bis 1699 verlor die Pforte in Konstantinopel im Verlauf der nächsten zwei Jahrhunderte die Masse dieser Territorien wieder, mit den Balkankriegen 1913 als Endpunkt. Die im Westen zuweilen gelobte Toleranz des Islam gegenüber den christlichen Untertanen wurde von diesen durchaus nicht so wahrgenommen – die dachten eher an Knabenlese, also die Verschleppung und Islamisierung männlicher Jugendlicher aus ihren christlichen Familien, und kulturellen Untergang. Ihre Nachfahren tun dies übrigens zu einem erheblichen Teil noch heute.

Wie in Bosnien knüpft auch anderswo türkisches Engagement in Südosteuropa an moslemische Völker und Volksteile an. Das sind neben den Bosniaken vor allem Albaner sowie einige Pomaken in Bulgarien. Ethnische Türken als Teil der alteingesessenen Bevölkerung sind auf dem Balkan rar, dafür hatten Flucht, Vertreibung und Umsiedlung in großem Stil gesorgt – wie sie im 19. und 20. Jahrhundert in allen Staaten der Region stattfanden. Ihre geringe Zahl taugt nicht als politischer Hebel in nationalstaatlichem Sinn, daher die Besinnung auf das in vornationalen Zeiten bestehende Osmanische Reich, dessen einstige (damals zumindest durch das Kalifat beanspruchte) Führungsrolle in der islamischen Welt der AKP ohnehin näher liegt als das europäische Konzept der an Völker gebundenen Nation.

Zum Kummer Ankaras ist die Türkei nicht der einzige Förderer des Islam auf dem Balkan. Vor allem die reichen Ölstaaten des Nahen und Mittleren Ostens sind ebenfalls aktiv, wenn es darum geht, prestigeträchtige Moscheen zu bauen und als moslemisch empfundene Sitten (wie das Tragen des Kopftuchs durch Frauen) zu fördern. Denn wenn auch das Selbstverständnis der Balkanmuslime durch das Osmanische Reich bestimmt ist – im Alltag der armen Bevölkerungen zählt bares Geld oft mehr als politische Tradition, zumal sich gerade in Bosnien nach dem Krieg der neunziger Jahre viele Glaubenskämpfer niedergelassen haben, die eher arabisch-wahhabitisch ausgerichtet sind als türkisch-osmanisch.

Es ist also zumindest zweifelhaft, ob das große Projekt einer osmanischen Renaissance kurz- oder mittelfristig Wirklichkeit wird, zumal momentan auch für die Moslems des Balkans der mit einem erhofften Wohlstandszuwachs verbundene Eintritt in die EU auf der politischen Agenda vorne steht. Abzuwarten bleibt hingegen, was passiert, wenn – wie gegenwärtig – die moslemischen Bevölkerungen des Balkans wachsen, während die christlichen Nachbarvölker schrumpfen; und wenn gleichzeitig die Finanzkraft der Türkei zunimmt, die Europas aber ab. Dann könnten die Karten noch einmal neu gemischt werden: Das Osmanische Reich wäre dann auf dem Balkan nicht mehr Vergangenheit, sondern Zukunft.

 

Fotos: Der türkische Premierminister Tayyip Erdogan (M.) besucht 2013 die Stadt Prizren im Kosovo: Die Führungsrolle über alle Moslems in früheren Osmanischen Reich beansprucht, Moslemische Mädchen im bosnischen Sarajewo: Arabische Golfstaaten bemühen sich um die Festigung des Islam

Franz Leo Ruben, Türkisches Kaffeehaus bei Sarajewo, Öl auf Leinwand 1897: Der Balkan wurde über 500 Jahre durch das Osmanische Reich geprägt

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