© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

Auf dem Weg zur Zweidrittel-Demokratie
Bundestagswahl: Eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung zeigt, daß unter den sozial Schwachen besonders viele Nichtwähler sind
Christian Schreiber

Die SPD bezeichnet sich gerne als soziales Gewissen der Bundesrepublik Deutschland. Und die Linkspartei ist vom Selbstverständnis her der Anwalt der kleinen Leute. Gerade für diese Parteien müssen die Ergebnisse einer Bertelsmann-Studie mit dem Titel „Gespaltene Demokratie – Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013“ alarmierend sein.

Rund 29,4 Millionen Wähler haben im vergangenen September ihre Stimme der Union oder der SPD gegeben, das ist gerade einmal etwas mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten. 17,6 Millionen Deutsche gingen gar nicht erst zur Wahl, das sind immerhin 2,7 Millionen Menschen mehr als für den Wahlsieger CDU gestimmt haben. Die in der vergangenen Woche veröffentlichte Studie zeigt, daß überdurchschnittlich viele Wahlverweigerer aus sozial schwachen Schichten kommen. An der Arbeit waren auch das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap beteiligt. Für die Untersuchung wurden 28 deutsche Städte analysiert, darunter Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg. „Arbeitslosigkeit, Bildungsstand und Kaufkraft haben nachweislich maßgeblichen Einfluß auf die Wahlbeteiligung“, sagte der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger. Die Studie bezeichnet die diesjährige Wahl daher als „sozial prekär“.

Bis zu 46 Prozentpunkte betrug bei der Bundestagswahl der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen einzelnen Vierteln in ein und derselben Stadt. So gingen in einem Kölner Bezirk, in dem überwiegend wohlhabende Menschen leben, knapp 90 Prozent wählen. In einem sozialen Brennpunkt waren es dagegen nur rund 43 Prozent. Einen besonders starken statistischen Zusammenhang ermittelte die Studie zwischen Wahlbeteiligung und Arbeitslosigkeit: „Der enge Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und Sozialstatus ist besorgniserregend. Noch nie war das Gefälle in der Wahlbeteiligung so groß wie bei den beiden letzten Bundestagswahlen 2009 und 2013“, sagte Dräger. Es scheinen sich mittlerweile richtige Nichtwähler-Traditionen zu bilden. Von den 17 Millionen, die im September nicht an der Bundestagswahl teilgenommen haben, sind 70 Prozent bereits vier Jahre zuvor nicht ins Wahllokal gegangen. Es gibt demnach eine große Gruppe Menschen in Deutschland, die sich dauerhaft von der Teilnahme an Wahlen verabschiedet hat.

Noch bei der Bundestagswahl 1998 lagen die Stimmbezirke mit der jeweils höchsten und niedrigsten Beteiligung im Bundesgebiet durchschnittlich 19,1 Prozentpunkte auseinander. In diesem Jahr betrug diese Differenz bereits beachtliche 29,5 Prozentpunkte. Seit 1972 hat sich der Unterschied zwischen den Wahlkreisen mit der höchsten und niedrigsten Wahlbeteiligung sogar fast verdreifacht. Stiftungsvorstand Dräger ist daher besorgt: „Die soziale Selektivität der Wählerschaft verfestigt sich und führt zu einer zunehmenden sozialen Spaltung der Demokratie.“

Wie aus der Studie hervorgeht, wirken sich neben höherer Arbeitslosigkeit auch geringere Bildung am meisten auf das Wahlverhalten aus. Je länger jemand arbeitslos ist, desto mehr sinkt sein Interesse an der politischen Teilhabe. Dies hänge auch damit zusammen, daß es im Bundestag nur wenige Abgeordnete gebe, die den Aufstieg aus einer unteren gesellschaftlichen Schicht geschafft haben. Dieses „Parlament der Besserverdienenden“ wirke beispielsweise für Langzeitarbeitslose sehr unattraktiv. Diese Zusammenhänge seien zwar schon mehrfach untersucht und veröffentlicht worden. Eine Diskussion der zunehmenden politischen Ungleichheit durch die drastisch gestiegene Ungleichheit der Wahlbeteiligung sei jedoch unvollständig, solange nicht geklärt sei, worauf diese Ungleichheit beruhe, erklären die Autoren.

Dräger spricht daher von „einer Zweidrittel-Demokratie“ und nennt das Parlament „eine zunehmend exklusive Veranstaltung“. Sein Fazit fällt alarmierend aus. „Wenn Menschen dauerhaft für die Demokratie verlorengehen, wird das irgendwann zu einem Problem.“

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