© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Mircea Eliade, der große rumänische Religionswissenschaftler, hat den Mythos schlicht als „heilige Geschichte“ definiert, die nur zu heiligen Zeiten weitererzählt oder mimetisch dargestellt werden darf, um eine entscheidende heilige Sache – vor allem die Entstehung von etwas – zu erklären. Insofern hat die Geburtsgeschichte unter allen Überlieferungen des Christentums noch am stärksten den Charakter des Mythos, denn sie schildert die Geburt des Erlösers, mithin den Ursprung einer neuen Zeit, unter Begleitumständen, die wir aus vielen anderen Mythen kennen; sie wird gemeinhin nur in einer Zeit des Kirchenjahres vorgetragen, es sei denn der Prediger setzt auf Irritation seiner Zuhörer. Als letzte Bestätigung ist zu betrachten, daß das nicht nur mythenskeptische, sondern auch theaterfremde Christentum hier eine Ausnahme macht und das Schauspiel im Gottesdienst gestattet.

Nachtrag zum 75. Todestag Kemal Atatürks: Es war selbstverständlich kein Zufall, daß die deutsche Übersetzung seines Werkes zur „nationalen Revolution“ der Türkei in einem völkischen Verlag erschien, sowenig wie die Bewunderung, die man in nationalsozialistischen Kreisen für den „Angora-Putsch“ oder „Marsch auf Ankara“, oder in nationalbolschewistischen Kreisen für das skrupellose Zusammengehen mit der Sowjetunion empfand, das die Türkei vor der durch die Entente geplanten Zerstückelung rettete.

Die stärkere Betonung des Charakters der Wertegemeinschaft ist ein ausgesprochenes Krisensymptom, so wie die Beschwörung des Konsens. Beides haben die Bürgerlichen in den 1980er Jahren erprobt, und ihre aufmerksamen Gegner rochen die Schwäche, die sich dahinter verbarg. Sie sind gescheitert und mußten scheitern, weil der Aufruf von Wert oder Konsens immer dann erfolgt, wenn der eine keine selbstverständliche Geltung mehr hat und der andere nicht besteht.

Bildungsbericht in loser Folge XLVII: Gewandeltes Selbstbewußtsein: Studienrat 1983: Kann auch Professor; Studienrat 2013: Kann auch Sozialpädagoge, Therapeut, Pfadfinderführer, Alleinunterhalter.

Die Lage der Ukraine, eingeklemmt zwischen Europäischer und Eurasischer Union, demonstriert, daß kein Modernitätsgewinn die Wahrheit der napoleonischen Sentenz aus der Welt schafft: „Geographie ist Schicksal.“

Die Versektung beginnt, wenn das Interesse an der Mission zurück-, das an der Abgrenzung in den Vordergrund tritt, wenn jeder, der Unverständnis äußert, als disqualifiziert betrachtet wird. – Die puritanischen Pilgerväter wollten ihr Gesinde gar nicht für die Gemeinschaft gewinnen. Solcher Erfolg hätte das eigene Auserwähltheitsgefühl nur geschwächt.

Spekulatius im August und Festdekoration ab September, der Weihnachtsmarkt am Totensonntag und jetzt die Weihnachtslieder ab der Voradventswoche: Das sind alles Symptome dafür, daß die letzte heilige Zeit abhanden kommt, das Jahr seine uralte Taktung, den Wechsel bedeutsamer und weniger bedeutsamer Perioden verliert. Oder vielleicht doch nicht: Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen in verschiedenen Teilen des Landes halten sich längst penibel an den Ramadan, weniger aus religiösen als aus praktischen Gründen, aber immerhin.

Das neue Buch von Herfried Münkler zum Ersten Weltkrieg wird mit dem Hinweis angepriesen, es sei die erste umfassende deutsche Arbeit seit mehr als vierzig Jahren. Das mag so sein, liegt aber kaum an fehlendem Forscherinteresse, eher an dem Wissen darum, daß jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema dazu führen mußte, 1. den ganzen Unsinn der sakrosankten Fischer-Deutung („Griff nach der Weltmacht“) zu entlarven, 2. die Richtigkeit der älteren – mithin „rechten“ – Interpretation der Geschehnisse anzuerkennen, was 3. nicht nur die Einkreisungspolitik der Entente, sondern 4. auch die Entwicklung der Zwischenkriegszeit und 5. die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in ein anderes als das übliche Licht gerückt hätte.

Drei Meldungen an einem Tag: Der Koalitionsvertrag sieht die grundsätzliche Akzeptanz doppelter Staatsbürgerschaften vor; 230 Islamisten sind aus Deutschland zum Kampfeinsatz in das syrische Bürgerkriegsgebiet gereist; das bürgerliche Leitorgan FAZ gibt einem Autor afghanischer Herkunft Gelegenheit, sich ausführlich über racial profiling durch die Polizei zu beschweren.

„Die Leute werfen mir immer vor, gegen die Hoffnung zu sündigen. Aber es ist mit der Hoffnung wie mit dem Glauben, die beste Hoffnung ist ohne sinnlich fühlbaren Trost. Was liegt mir daran zu wissen, ob ich die Hoffnung habe oder nicht, wenn ich nur ihre Werke habe!“ (Georges Bernanos)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 3. Januar in der JF-Ausgabe 2/14.

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