© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

Christliche Feste, unsere Gegenwart und die religiös Unmusikalischen
Die Sehnsucht bleibt
Gernot Facius

Alle Jahre wieder: Wie die Deutschen an Weihnachten ticken, das vermelden die Meinungsforscher meist schon, ehe die ersten Besucher der Nikolaus- oder Adventsmärkte sich die klammen Finger an heißen Glühweintassen wärmen. Beauftragt vom evangelischen Magazin Chrismon, hat das Emnid-Institut bei einer repräsentativen Umfrage im Oktober herausgefunden, daß zum Festtagsgottesdienst im Westen mehr als die Hälfte der Befragten gehen, im weitgehend entkirchlichten Osten nur 23 Prozent. Beim Liedersingen sind West und Ost sich aber fast einig: Gut 40 Prozent freuen sich auf „Stille Nacht, heilige Nacht“. Wie immer man diese Zahlen gewichtet: Dem Geheimnis von Weihnachten kann sich offenbar selbst der religiös Unmusikalische nicht ganz entziehen.

Daß, wie das Christentum lehrt, ein hilfloses, verletzbares Kind in die Welt gekommen ist, um „Heil“ zu bringen, ist freilich schwer zu fassen. Es ist eine Geschichte von ganz unten. Sie ist revolutionär. Eine Provokation. Die Worte des Propheten Micha („Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei ...“, Kap. 5) sind eine Verheißung. Es scheinen Bilder der Hoffnung und der Sehnsucht auf. Weihnachten heißt, in Sehnsucht zu leben. Es geht um den Sieg über die Finsternis. „Das Volk, das im Finstern wandelt, schaut ein großes Licht; über denen, die im Land der Dunkelheit wohnen, erstrahlt ein Licht“, ist bei Jesaja zu lesen. Verkündet wird eine Botschaft, die Mut macht. Eine Nachricht, die auch die Herzen von Menschen, die sich das Jahr über dem Kern des Evangeliums entfremdet haben, bewegt. Deshalb die vollen Gotteshäuser am Heiligen Abend.

Es ist wahr: Viele, die da die Kirchenbänke füllen, finden nur einmal in zwölf Monaten in einen Gottesdienst. Es wäre allerdings anmaßend, mit dem Finger auf diese „Weihnachtschristen“ zu zeigen. Sind sie nicht auch angesteckt von der (christlichen) Hoffnung auf das „Heil“, auf Frieden, Liebe und Gerechtigkeit?

Die Säkularisierung in Deutschland schreitet voran, kein Zweifel. Ein kleiner Trost: Zumindest die christliche Grundierung scheint noch vorhanden. 75 Prozent der Menschen im Westen Deutschlands, sagt der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack, nennen das Christentum das Fundament unserer Kultur. Bemerkenswert: Selbst im Osten ist immerhin die Hälfte der Menschen dieser Meinung, und das bei einer Kirchenzugehörigkeit von etwa 25 Prozent. Ein Indiz, daß in einer immer fragiler werdenden Welt die Sehnsucht nach Orientierung vorhanden ist, auch wenn sich diese Orientierung oft mit allgemein moralischen Werten vermischt.

Immerhin haben sich sogar CDU, SPD und CSU in ihrem Koalitionsvertrag einen Hinweis auf die besondere Bedeutung des Christentums abgerungen: „Auf der Basis der christlichen Prägung unseres Landes setzen wir uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein.“ Man wird jetzt genau verfolgen müssen, ob das mehr als nur harmlose Politik-Prosa ist, mit der christliche Stammwähler bei der Stange gehalten werden sollen.

Das nun zu Ende gehende Jahr liefert hinreichend Beispiele für angebliche gesellschaftliche Fortschrittlichkeit. Vieles ist widersprüchlich. Es werden Unterschriften für den lauten Ruf des Muezzins vom Minarett gesammelt, sogar Pfarrgemeinden spenden für Moscheen, aber bei Gerichten häufen sich Klagen gegen Kreuze in Klassenzimmern. Keine religiösen Feste mehr auf öffentlichen Plätzen: Damit machte im Sommer eine Koalition aus Grünen, Sozialdemokraten, Linkspartei und Piraten im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg von sich reden, die Bezirksmedaille für ehrenamtliches Engagement soll nicht mehr verliehen werden, wenn es sich um Engagement in der kirchlichen Sozialarbeit handelt.

Ein Anflug von neuem Kulturkampf, diesmal unter demokratischem Vorzeichen. Einige Tage mehr oder weniger pflichtschuldige Empörung in den Medien, und das war es dann schon. Der Schweizer katholische Theologe Martin Rhonheimer, Autor des Buches „Christentum und säkularer Staat“, kommentierte dies im Interview mit dem Vatican Magazin (11/2013) unter Hinweis auf die Praxis in seiner Heimat: „In der Schweiz wählen wir Politiker ab, die uns nicht passen, oder wir nutzen die Instrumente der direkten Demokratie. Zumindest das Abwählen sollte auch in Deutschland eine Option sein.“ Allerdings sei es nutzlos, sich über den Kampf gegen die öffentliche Präsenz der Religion aufzuregen, wenn diese Präsenz keinen gesellschaftlichen Rückhalt mehr habe und sich nur noch alteingesessenem Gewohnten und institutionellen Relikten einer vergangenen Zeit verdanke. Der Professor will sagen: Öffentliche Präsenz von Religion kann nicht von oben verordnet werden, vor allem nicht, wenn „die da oben“ gar nicht mehr religiös sind; auch öffentliche Präsenz der Religion muß aus dem Innern der Gesellschaft herauswachsen, nur dort kann sie ihre Stütze finden.

Weihnachten, um beim Thema zu bleiben, ist durch und durch kommerzialisiert. Das Fest hat an religiöser Bedeutung verloren, aber auf einer anderen Ebene an Bedeutung gewonnen. Familiäre Rituale überlagern die kirchlichen. Es entsteht eine Komfortzone, in der man sich behaglich einrichtet. Weihnachten: ein Rückzugsgebiet in die Familie. Auch dieses Faktum sollte man nicht kleinreden, zeigt es doch, daß Familie alles anderes ist als ein Auslaufmodell, wie einst die Achtundsechziger den Deutschen weismachen wollten.

Weihnachten: ein Geschenkefest. Auch keine ganz neue Entwicklung. Das erhellt ein Zitat aus dem Jahr 1888, aufgefunden in „Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit“ der Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann: „In die selige Gebetstimmung drängen sich auch wieder die alten Sorgen: Was schenken wir unseren Freunden? Wie bewältigen wir am besten die Pflichtgeschenke, denen wir uns nicht entziehen können? Wir atmen erleichtert auf, wenn wir dieses Kapitel erledigt haben. Es gibt Kreise, in denen das Schenken schon eine Art unangenehmen Geschäftes geworden ist.“ Von Pflicht, Geschäft und Geschenkezwang ist also die Rede. Mit dem freiwilligen Geben als Zeichen der (Nächsten-)Liebe hat das natürlich wenig zu tun.

Die Ausbreitung des Wohlstandes im 20. Jahrhundert hat diese Tendenz noch befördert. Heute sagen deshalb nicht wenige, das Fest der Geburt Christi sei ganz schön heruntergekommen. Es werde folklorisiert, verkitscht. Der Advent auch. Er wird heute einfach mit Vorweihnachtszeit übersetzt. Wer denkt im Konsumrausch und bei der Zuckerwatte- und Pfefferkuchen-Glückseligkeit in den Fußgängerzonen noch daran, daß mit Advent einmal eine strenge Fastenzeit zur Vorbereitung auf die Ankunft des Messias gemeint war, eine stille, nachdenkliche Zeit? Das Wissen über christliche Feste und Riten verblaßt. Die Pisa-Studie läßt grüßen!

Gewiß, die Präsenz anderer Religionen in unseren Städten und Dörfern trägt zur Sinnentleerung von Advent und Weihnachten bei. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Christen müssen sich fragen lassen, ob sie nicht mit schuld sind an der Bedeutungsverschiebung, indem sie sich der Diktatur der Politischen Korrektheit unterwerfen. Zwar singt man noch wie zu alten Zeiten am Heiligen Abend: „Christ, der Retter ist da“. Aber wovor der Retter rettet, von den Sünden nämlich, wie das Evangelium lehrt, das möchte man doch am liebsten verdrängen.

Die christliche Selbstsäkularisierung macht selbst vor dem Fest der Geburt Christi nicht Halt. Dem sächsischen lutherischen Pfarrer Theo Lehmann, einem bekannten Jugendevangelisten und Autor, kommen manche Weihnachtsansprachen vor wie Reden bei einer Rot-Kreuz-Versammlung, wo die guten Taten liebevoller Helfer gerühmt werden, aber peinlich vermieden wird zu sagen, daß es von Menschen verschuldete Unfälle, Katastrophen und Kriege gibt. Ganze Generationen von Theologen seien bemüht, alles Göttliche aus der Weihnachtsgeschichte zu streichen, bis nur noch ein weichgespülter „Kuschel-Jesus“ übrigbleibe, der keinen interessiere und keinem etwas nütze.

Die Kirchen werden darum kämpfen müssen, daß es nicht um diffuse Wohlfühl-Religiosität geht, sondern um konkreten Glauben. Um einen Glauben, der bereit ist, widerständig, „anstößig“ zu wirken, der willens ist, Kontrapunkte zu setzen. Auch in Fragen von Familie, Lebensschutz und Feiertagskultur. Ein opportunistisches, vor islamischen und atheistischen Ansprüchen einknickendes „Christentum light“ mit „unterschwelligen“ Angeboten würde sich auf Dauer überflüssig machen.

Es gibt Gemeinden in Deutschland, in denen der Martinstag mit seinen Laternenumzügen zu einem Sonne-Mond-und-Sterne-Fest mutierte. Angeblich aus Rücksicht auf die muslimischen Kinder und Eltern, denen das Gedenken an den heiligen Bischof von Tours nicht zuzumuten sei. Die Pointe der Geschichte: Selbst Islam-Vertreter zeigten sich über diesen vorauseilenden Gehorsam verwundert. Und diese Meldung kommt nicht aus Absurdistan, sondern aus dem schönen Wiesbaden. In der hessischen Landeshauptstadt heißt der traditionelle Weihnachtsmarkt „Sternschnuppenmarkt“. Wird demnächst Weihnachten in „Sternschnuppenfest“ umbenannt?

Die Frage ist nicht so absurd, wie sie klingt. Kreativen Umdeutern ist ja schon eingefallen, aus Ostern ein „Hasenfest“ zu machen, um dem multikulturellen Publikum die Konfrontation mit der christlichen Kreuzes- und Auferstehungstheologie zu ersparen. In den Vereinigten Staaten ist es üblich geworden, sich sehr neutral „Happy Holidays“ und nicht traditionell „Merry Christmas“ zu wünschen. Auch in Deutschland, das alles gierig aufsaugt, was aus Amerika kommt, werden „Season’s Greetings“-Grußkarten populär, wie jüngst ein bekannter Finanzexperte dem evangelischen Magazin idea-Spektrum berichtete. Nach seiner persönlichen Statistik machten „Frohe“ oder gar „gesegnete“ Weihnachten bei Karten und E-Mails, die er erhalte, längst weniger als die Hälfte aus. Auch ein Indiz dafür, wie sehr das Fest seine religiöse Bedeutung einbüßt.

Es gibt Gegenbewegungen, die zu einem Zurück zum ursprünglichen Sinn des Weihnachtsfestes ermuntern. Sie werden mitleidig belächelt, ihre Weckrufe verhallen. „Die Deutschen“, hat der aus einer der ältesten muslimischen Gelehrtenfamilien in Damaskus stammende Professor Bassam Tibi schon vor einigen Jahren geschrieben, „leiden unter Weltfrömmigkeit.“ Vermutlich hat er recht.

 

Gernot Facius, Jahrgang 1942, war stellvertretender Chefredakteur und Autor der Tageszeitung Die Welt. Er arbeitet heute als freier Journalist. Facius ist seit 25 Jahren Mitglied der Gesellschaft Katholischer Publizisten (GKP).

Foto: Volle Kirche an Heiligabend: Frohe Kunde von etwas absolut Unerhörtem – Gott wird Mensch

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