© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

Saufen für die Weltrevolution
Gegen den Willen Lenins führen die Kommunisten in der Sowjetunion 1923 das staatliche Wodkamonopol ein
Wolfgang Kaufmann

Im Mai 1921 erklärte die Revolutionsikone Wladimir Iljitsch Lenin auf der X. Gesamtrussischen Konferenz der Bolschewiki: „Ich glaube, daß wir im Unterschied zu den kapitalistischen Ländern, die Schnaps und sonstige Betäubungsmittel in Umlauf bringen, solche Dinge nicht zulassen werden.“ Damit reagierte Lenin auf die Debatte innerhalb der Führung der Kommunistischen Partei Rußlands, ob der Sowjetstaat nicht in größeren Mengen Wodka produzieren und unter die Leute bringen solle, um von den Erlösen seinen Haushalt zu sanieren und die „Industrialisierung“, sprich Aufrüstung, zu finanzieren.

Allerdings schwand Lenins Einfluß bald darauf erheblich, wofür eine Serie von Schlaganfällen verantwortlich war, die seine Fähigkeit, sich zu artikulieren, sukzessive zunichte machte. Deshalb stand ein weiterer entschiedener Gegner der „legalen Trunkenheit“, nämlich der Volkskommissar für das Kriegswesen Leo Trotzki, im Herbst 1923 plötzlich allein auf weiter Flur. Zwar hatte er noch die Möglichkeit, staatliche Dienststellen wie das Volkskommissariat für das Gesundheitswesen mit Eingaben folgender Art zu bombardieren: „Angesichts unseres langsamen und schwächlichen Wiederaufbaus gleicht der Versuch, den Haushalt auf Wodka zu stützen, dem Vorgehen eines Hungernden, der seine wichtigsten Muskeln ausschneidet, um den bestehenden Hunger zu stillen“. Jedoch bekam er daraufhin von Vertretern der Parteibürokratie mitgeteilt: Die Bolschewiki seien „keine Romantiker, keine Vegetarier, keine Moralisten, sondern ‘nüchterne’ Realisten“, daher seien sie auch „für den betrunkenen Haushalt“.

Einer der maßgeblichen Widersacher Trotzkis in dieser Frage war kein Geringerer als Stalin, der die Stirn hatte, zu behaupten, er handle im Sinne Lenins. Der habe angeblich im Sommer 1922 konzediert, daß es in Anbetracht der Unmöglichkeit, im Ausland Kredite zu bekommen, letztlich wohl doch unumgänglich sein werde, ein staatliches Wodkamonopol einzuführen. Damit vermochte er Trotzki als einzigem verbleibenden Gegner des Projektes den Wind aus den Segeln zu nehmen und anschließend zu höhnen: „Es gibt Leute, die glauben, man könne den Sozialismus in Glacéhandschuhen aufbauen“; diese „sind in einem groben Irrtum befangen“.

Die Konsequenzen der Grundsatzentscheidung von 1923, den sowjetischen Staatshaushalt zu erheblichen Teilen auf den Verkauf von Wodka an die Bevölkerung zu stellen, welche dann später in einen offiziellen Politbürobeschluß mündete, waren überaus fatal. Zwar stiegen die Staatseinnahmen tatsächlich kräftig, weil durch das reichliche Angebot staatlich produzierten Wodkas auch der Verbrauch enorm zunahm: von 0,6 Flaschen pro Kopf der Bevölkerung (vom Säugling bis zum Greis) im Jahre 1924 auf 4,6 Flaschen 1926/27.

Dem jedoch standen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen gegenüber, wobei zu bedenken ist, daß parallel auch weiterhin größere Mengen illegal gebrannten Schnapses, des sogenannten Samogon, konsumiert wurden. Hierüber berichtete der sowjetische Inlandsgeheimdienst OGPU im Herbst 1925: „In den ersten Oktobertagen und besonders am Zahltag erreichte die Trunkenheit Massencharakter. Im Zusammenhang mit der Trunkenheit läßt sich ein außergewöhnliches Anwachsen der Arbeitsbummelei und der Fälle des Erscheinens bei der Arbeit im betrunkenen Zustand verzeichnen. In der Fabrik ‘Zarjad’ haben drei Tage nach dem Zahltag 1.300 Arbeiter nicht gearbeitet.“

Damit erhielt der Mahner Trotzki wieder Rückenwind und andere hochrangige Bolschewiki wie das Politbüromitglied Grigori Sinowjew stellten sich an seine Seite. Doch mit dem Sieg Stalins über seine innerparteilichen Gegner und der Verbannung Trotzkis im Jahre 1928 fiel auch die Kritik am „betrunkenen Haushalt“ in sich zusammen. Nunmehr gab es nur noch einen Kurs, und der sah so aus: Jeder Aufrüstungsschritt führte unweigerlich zu einer weiteren Ankurbelung von Wodkaproduktion und -konsum. So zum Beispiel 1930, als die Vergrößerung der Roten Armee von 640.000 auf 700.000 Mann anstand. Damals schrieb Stalin an den neuen Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Wjatscheslaw Molotow: „Woher das Geld nehmen? Meiner Meinung nach müssen wir die Wodkaproduktion erhöhen. Wir müssen die falsche Scham abwerfen, direkt und offen eine maximale Erhöhung der Wodkaproduktion anzustreben, um eine wirklich solide Verteidigung unseres Landes gewährleisten zu können.“ Dabei übersah der „geniale“ Stalin allerdings, daß er damit die Gesundheit des Sowjetvolks und somit auch der potentiellen Soldaten der Roten Armee schwächte.

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