© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Nur halbherzig
Urteil: Der Staat darf keine „Wahrheit“ verordnen – doch es gibt eine Ausnahme
Günter Bertram

Hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem „spektakulären Grundsatzurteil“ wirklich eine Lanze für die Meinungsfreiheit gebrochen, wie es der überwiegende Tenor in der Presse, etwa in der Neuen Zürcher Zeitung, ist?

Dessen kleine Kammer hatte am 17. Dezember 2013 über ein letztinstanzliches Urteil des Schweizer Bundesgerichtshofs befunden, das den dortigen Präsidenten der türkischen Arbeiterpartei zu einer Geldstrafe verurteilt hatte, weil er den Völkermord an den Armeniern von 1915 als „internationale Lüge“ bezeichnet hatte. Damit habe er das strafrechtlich bewehrte einschlägige Schweizer Leugnungsverbot verletzt. Dieses Strafurteil hat nun das Straßburger Gericht kassiert, weil dessen praktizierte Auslegung des Schweizer Verbotsgesetzes den Antragsteller unzulässig in seinem auch europäisch verbürgten Recht verletzt habe, seine Meinung frei zu äußern.

In der Begründung heißt es, die Frage des Armeniermords sei historisch und juristisch höchst streitig; nur 20 von 190 Staaten der Erde hätten ihn zum Genozid erklärt. Ebenso umstritten sei die weitere Frage, ob und nach welchen Maßstäben selbst eine unzutreffende Meinung für strafbar erklärt werden könne. Der Text geizt nicht mit goldenen Worten: Das Recht, offen auch über „sensible Themen“ zu diskutieren“, sei ein wesentlicher Aspekt der Meinungsfreiheit, in einer Demokratie dürfe der Staat „keine objektive und absolute Wahrheit dekretieren“, gerade der Schutz von Mindermeinungen sei das Wesen der Freiheit.

Im konkreten Fall wird dann viel Konkretes diskutiert, durchweg zugunsten des türkischen Beschwerdeführers. Wir kennen Vergleichbares vom Bundesverfassungsgericht, das selbst in seiner Wunsiedel-Entscheidung von 2005 (JF 28/08), das die Meinungsfreiheit grundgesetzwidrig verstümmelt, sie dennoch als fundamental und heilig beschwört.

Beim Straßburger Urteil handelt es sich um eine im siebenköpfigen Gremium strittige Entscheidung: Nur die Richter aus Dänemark, Serbien und der Schweiz tragen sie uneingeschränkt, die aus Montenegro und Portugal mit Abstrichen, der aus Ungarn und der Kammerpräsident aus Italien widersprechen ihr. Wer wollte ausschließen, daß die jeweils unterschiedlichen Beziehungen ihrer Länder zur Türkei, die „als dritte Partei“ am Verfahren beteiligt war, für die Richter eine Rolle gespielt haben ? Jedenfalls läßt sich erklären, warum nicht alles, was im Spruch steht, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden konnte. Der goldene Grundsatz der Meinungsfreiheit erfährt hier immerhin manche Brechung, Einschränkung und Relativierung.

Da läßt auch die kurze Passage der gerichtlichen Pressemitteilung aufhorchen, wonach der jetzt entschiedene Fall klar und deutlich zu unterscheiden sei von der Behandlung einer Holocaust-Leugnung („negation of the crimes of the Holocaust“). Deren Verbot (etwa durch unseren Volksverhetzungsparagraphen 130 des Strafgesetzbuchs) besitze, anders als das Verbot im Falle der Armenier, eine sichere Fundierung: im Spruch des Nürnberger Gerichtshofs von 1946.

Bemerkenswert, daß die Straßburger Richter zur Bekräftigung des Rechts ihres türkischen Beschwerdeführers (vielleicht versehentlich) Quellen anführen, die gerade der Meinungsfreiheit wegen auch die Holocaust-Leugnung für genauso unverbietbar erklären wie andere absurde Auslassungen. Man beruft sich dazu auf eine Entscheidung des „Human Rights Committee“ der Vereinten Nationen vom Juli 2011, das schlechthin alle „Gesetze, welche die Meinungsäußerung über historische Fakten unter Strafe stellen“, für unvereinbar mit internationalem Recht erklärte. Wobei dort angemerkt wurde, daß gerade Fälle der Holocaust-Leugnung damit gemeint sind. Auch die Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts vom November 2007, auf die sich die Richter des Menschenrechts-Gerichtshofes beziehen, hatte unseriöse Äußerungen über den Holocaust ausdrücklich in den Schutz der Meinungsfreiheit einbezogen.

So scheut sich der lange, in seiner Argumentation dennoch undeutliche Straßburger Spruch, den kurzen und einleuchtenden Weg zu beschreiten, wie ihn etwa der „Appell von Blois“ europäischer Wissenschaftler vom Oktober 2008 (JF 45/08) vorgezeichnet hatte: alle – wirklich alle – sogenannten „Erinnerungsgesetze“ („lois mémorielles“) aus dem Rechtsleben zu verbannen. Über historische Wahrheiten könne und dürfe kein Gericht, auch kein Gesetz entscheiden; sie müßten ganz der freien Diskussion und Forschung überlassen bleiben.

Hätten die Richter sich das zu Herzen genommen, so wäre für sie auch die Leugnung der Armenier-Massaker von 1915 darunter gefallen, so widerwärtig, abstoßend und unwahr sie auch sein mag. Das bekräftigen auch armenische Intellektuelle und Forscher: „Ihre“ Wahrheit solle nicht verordnet werden, sondern im offenen Diskurs zur Geltung kommen.

Ob es bei der jetzigen Entscheidung bleibt, ist noch offen. Die Schweiz kann gegen sie die große Kammer des Gerichts, die aus sage und schreibe siebzehn Richtern bessteht, anrufen. Wird eine solche Berufung – so ist wohl zu erwarten – angenommen, dürfte die gerichtsinterne Diskussion ihren Fortgang nehmen. Es lohnt sich, den Fall im Auge zu behalten.

 

Günter Bertram war Vorsitzender Richter am Hamburger Landgericht.

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