© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

„Deutschland war nicht der Schurke“
Seit der „Fischer-Kontroverse“ gilt Deutschland als der Aggressor des Ersten Weltkriegs. Nun sorgt der Historiker Christopher Clark mit seinem Buch „Die Schlafwandler“ für Furore. Seine These: Von einer deutschen Allein- oder Hauptschuld könne keine Rede sein.
Moritz Schwarz

Herr Professor Clark, den „Spiegel“ macht „mißtrauisch, daß Ihre Position an die nationalkonservativer deutscher Historiker erinnert“. Sind Sie etwa ein Deutschen-Freund?

Clark: Deutschland ist mir sympathisch, ich spreche Ihre Sprache, bin gerne hier zu Besuch. Aber prodeutsch im Sinne einer doktrinären Haltung bin ich nicht.

Wieso bezweifeln Sie dann Deutschlands Alleinschuld am Ersten Weltkrieg?

Clark: Oh, von Alleinschuld spricht sicher niemand, nicht mal die eingefleischtesten Anhänger der Fischer-Schule.

Der Historiker Fritz Fischer löste in den sechziger Jahren eine Debatte um die Kriegsschuld aus, die „Fischer-Kontroverse“. Noch mal der „Spiegel“: „In der Kontroverse gab er Deutschland die Alleinschuld.“

Clark: Tatsächlich hat sich die Fischer-These als eine Art Orthodoxie eingebürgert, aber meist nicht in einer radikalen Form, sondern als Light-Version. Diese lautet bei meinen anglophonen Kollegen etwa so: Russen, Franzosen oder Briten haben Dummheiten gemacht – doch nur die Deutschen wollten den Krieg und nur sie haben ihn herbeigeführt.

In Deutschland gilt allerdings meist die radikale Variante. Von einer ZDF-Redakteurin etwa wurde Ihnen vorgeworfen, Sie „nehmen Deutschland zu sehr in Schutz“.

Clark: Ganz und gar nicht, ich benenne Deutschlands Mitverantwortung klar und deutlich. Aber es ist schon seltsam: Nur in Deutschland wird einem vorgeworfen, man sei dem Land zu freundlich gesinnt. Nur hier gilt das als anrüchig.

Inwiefern?

Clark: Ich erinnere mich an eine Diskussion in Berlin zum Thema Preußen. Danach kam eine sehr nette, gebildete, ältere Dame auf mich zu: „Herr Clark, Sie scheinen uns Deutsche zu mögen.“ „Na ja“, erwiderte ich, „warum auch nicht?“ Sie: „Weil wir so schrecklich sind!“ Ich glaube, so etwas wird Ihnen in keinem anderen Land der Welt passieren.

Ihr Buch ist in Deutschland ein Verkaufsschlager. Vielleicht weil es im Gegensatz zur herrschenden Haltung steht und provoziert?

Clark: Das wäre möglich. Allerdings hat es auch in England beleidigte Verrisse produziert, Motto: „Wir wissen, wer am Ersten Weltkrieg schuld ist! Was erzählt dieser Clark da?“ Ich selbst habe in der Schule noch gelernt, die Großmächte hätten sich 1914 gegen Deutschland nur solidarisiert, weil dieses provoziert habe.

Und so war es nicht?

Clark: Das Ganze ist viel komplexer. Rußland etwa verbündete sich auch deshalb mit Frankreich, weil es fürchtete, London könne sich mit Berlin zusammentun. Und London suchte die Nähe zu St. Petersburg nicht, um Deutschland einzuschüchtern, sondern um Persien und Indien gegen Rußland abzusichern.

Das Fazit Ihres Buches lautet: Das Deutsche Reich war 1914 nicht der Schurke, als der es gerne dargestellt wird.

Clark: Nein, Deutschland trug zwar zur Entstehung des Krieges bei und trägt folglich eine Mitschuld, aber mehr nicht. Es gab keine deutsche Verschwörung zum Krieg. Deutschland wollte Großmacht sein, deshalb verhielt es sich wie eine Großmacht. Die deutsche Politik blieb völlig im Rahmen der Zeit.

Aber griff Deutschland nicht nach der Weltmacht?

Clark: Richtig ist, daß es eine deutsche „Weltpolitik“ proklamierte. Resultat waren ein paar Kolonien im Pazifik und in Afrika. Im ganzen sehr dürftig. Kein Vergleich zu den etablierten Weltmächten. Ich frage meine Studenten gern: Was war der Unterschied zwischen der damaligen britischen und der deutschen Flotte? Die britische war stets im Einsatz, die deutsche dagegen kaum. Das gleiche gilt für die britische und deutsche Armee.

Aber Berlin gab Wien in der Julikrise von 1914 Rücken deckung und ermunterte es zum Krieg, weil es selbst welchen wollte – so die Begründung für Deutschlands Allein- oder Hauptschuld am folgenden Weltkrieg.

Clark: Richtig ist, wie Österreich wollte Deutschland einen lokalen Krieg gegen Serbien. Jedoch, Frankreich und Rußland hatten zuvor ein Durchgreifen der Mittelmächte gegen Serbien als Auslöser eines Krieges durchgespielt und aus Serbien ein Vorwerk ihres Bündnisses gemacht, quasi als eine Sollbruchstelle, die zum Krieg führt. Da kommt also ebenfalls eine gewisse Risikobereitschaft zum Ausdruck. Was nicht heißt, der Krieg sei folglich Produkt einer französisch-russischen „Verschwörung“ gewesen. Berlin übrigens ging davon aus, daß Rußland nicht eingreifen würde. Allerdings war die deutsche Staatsführung bereit, einen Kontinentalkrieg zu riskieren. Reichskanzler Bethmann meinte, sollten die Russen trotz aller Gegenargumente doch eingreifen, hieße das, sie wollen und suchen den Krieg. Wenn dem so ist, dann gehen wir ihm nicht aus dem Weg.

Durch Ihr Buch gewinnt man den Eindruck, daß Rußland den Krieg wollte.

Clark: Dieser Eindruck mag fälschlicherweise entstehen, weil ich unterschwellig gegen die Fischer-These anschreibe. So habe ich versucht, von einem Fischerschen Standpunkt auch die anderen Großmächte zu untersuchen. Und siehe da, auch bei anderen entdeckt man Bellizismus, provokatives Verhalten und eine Bereitschaft zum Risiko.

Auch den zweiten gängigen Schurken sprechen Sie frei: Österreich-Ungarn.

Clark: Ich spreche Österreich-Ungarn nicht frei, aber es ist ebensowenig wie Deutschland der Schurke. Tatsächlich war Wien in einer äußerst prekären Situation. Nach der Logik der Großmächte mußte es auf die Ermordung seines Thronfolgers in Sarajevo durch serbische Nationalisten irgendwie reagieren.

Warum?

Clark: Nun, wie würden etwa die USA reagieren, wenn ein in Teheran trainiertes Kommando den designierten US-Präsidenten mit Frau auf offener Straße töten würde? Ich glaube nicht, daß die Amerikaner auf ihren Händen sitzen blieben.

Sie sagen, die Ermordung des Thronfolgers sei für Österreich-Ungarn so etwas wie ein „11. September 2001“ gewesen.

Clark: Ja, es hat die Chemie der Politik der damaligen Zeit schlagartig verändert. Und es ist eine Legende, daß den Österreichern der Tod des Thronfolgers egal gewesen wäre, sie nur den nützlichen Anlaß zum Krieg gesehen hätten. Nein, sie waren zutiefst bestürzt. Sein Tod war wirklich ein Schock für Wien.

Wien sah Belgrad hinter dem Attentat und beschloß ein Ultimatum gegen Serbien.

Clark: Ich sage nicht, Österreich habe ein Recht gehabt, Serbien anzugreifen, aber aus der Logik der Zeit stellt sich die Frage: Wie hätte es sich verhalten sollen? Eine nachbarschaftliche Zusammenarbeit Wiens und Belgrads bei der Aufklärung des Mordes war unter den damaligen Verhältnissen wohl kaum denkbar. Rußland, das sich als Schutzmacht Serbiens sah, war nicht bereit, eine Wiedergutmachung irgendwelcher Art gegenüber Österreich zu akzeptieren. Mit seinem kategorischen Nein verschärfte St. Petersburg die Situation, brachte Wien in eine Zwangslage. Zudem: Das langfristige Ziel der serbischen Nationalisten – die Herstellung eines großserbischen Staates – war mit der Fortexistenz Österreich-Ungarns nicht vereinbar.

Wer ist denn nun schuld am Weltkrieg?

Clark: Ich glaube, Schuld ist ein Begriff, der hier nichts erklärt. Schuld setzt auf der anderen Seite Unschuld voraus, deshalb führt dieses Konzept zu einer verzerrten Darstellung der Julikrise. Der Krieg entstand aus einer europäischen politischen Kultur heraus. Europa war damals ein explosiver Kontinent.

Das klingt wie die Erklärung des britischen Premiers David Lloyd George, allesamt sei man in den Weltkrieg „hineingeschlittert“ – obwohl Sie sich davon mit Ihrer Schlafwandler-These doch abgrenzen wollen!

Clark: „Hineingeschlittert“ meinte, die Verantwortlichen träfe keine Schuld. Dem war nicht so. Vielmehr haben sie wie Schlafwandler mit offenen Augen die Dinge geschehen lassen, ohne sie zu verhindern: Sie haben einen großen Krieg sehenden Auges in Kauf genommen. Keiner wollte ihn anfangen, aber jeder war bereit, ihn willig zu akzeptieren, falls ein anderer den Krieg anbieten würde. Und ich meine anbieten, nicht aufzwingen, so viel Druck war gar nicht nötig.

Wenn keine der Mächte der ausgemachte Schurke war – war vielleicht Fritz Fischer der Schurke, weil er die historische Wahrheit möglicherweise ideologisiert hat?

Clark: Nein, ich bewundere Fischer und halte sein Werk für eine Errungenschaft der Geschichtsschreibung, seine Kontroverse für sehr befruchtend. Nichts liegt mir ferner, als ihn widerlegen zu wollen.

Aber genau das tut Ihr Buch.

Clark: Ich sehe mein Buch nicht als Antithese zu Fischer, sondern als Synthese. Fischers große Leistung ist etwa, zuerst gezeigt zu haben, daß unter den Entscheidungsträgern ein aggressiver und bellizistischer Grundton herrschte – also nichts mit „hineinschlittern“. Darauf baute er allerdings eine Reihe von Argumenten auf, die sich mit diesem wichtigen und noch gültigen Befund nicht rechtfertigen lassen. Denn die nachgewiesene Bereitschaft zum Weltkrieg ist etwas anderes als der Wille dazu, den Fischer nun unterstellte. Fischer praktizierte eine strikte Binnenperspektive, die wichtig, aber nicht das ganze Bild ist.

Wieso tat Fischer das?

Clark: Fischer wollte ein Psychogramm der politischen und militärischen Elite des damaligen Deutschlands zeichnen. Das ist ihm auf großartige Weise gelungen. Aber es reicht nicht, um die Entstehung des Krieges zu erklären. Bei Fischer gibt es eine Art Primat der Innenpolitik. Wofür er sich aber so gut wie nicht interessiert, ist der internationale Kontext.

War Fischer voreingenommen?

Clark: Er war nach 1945 wohl gebannt von der Frage der deutschen Schuld. Zunächst sah er deren Wurzel im deutschen Protestantismus, später in der deutschen Tradition. Dabei vermengte er wohl seine persönliche mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Denn Fischer stand, das zeigen neue Studien, der NSDAP weltanschaulich nah, hatte judenkritische Vorträge gehalten und bekannt, welche Freude dies ihm gemacht habe. Später hat er seinen Irrtum eingesehen und eine Art persönliche Krise erlebt.

Wieso konnte sich Fischers These so erfolgreich in Deutschland durchsetzen?

Clark: Ich glaube, zum einen vereinfacht eine Haupt- oder Alleinschuldthese das komplexe Geschehen, nicht nur was den Ablauf angeht, sondern auch moralisch, was das Ganze dann leichter verständlich macht. Zum anderen half die Fischer-These nicht nur, die gedanklichen Überreste des Nationalsozialismus, sondern auch einen nun als obsolet empfundenen elitären Konservatismus abzuräumen.

Wie beurteilen Sie das?

Clark: Einerseits bewundere ich den enormen Wandel Deutschlands, das sich mit seiner Vergangenheit schließlich in einem Maße auseinandergesetzt hat, wie wohl kein anders Land. Die kulturellen Umwälzungen der sechziger Jahre – und auch in diesem Kontext ist die Fischer-Kontroverse zu sehen – haben Wesentliches zu diesem Wandel beigetragen. Andererseits kann ich einen Mann wie Gerhard Ritter auch gut verstehen. Ritter, ebenfalls ein hervorragender Historiker, war damals wohl Fischers erbittertster Gegner. Dabei hatte er sich, anders als Fischer, in der Zeit des Dritten Reiches nichts zuschulden kommen lassen. Er war tadellos geblieben und stand auf dem Standpunkt, sich sein schönes altes Deutschland der Kaiserzeit nicht kaputtmachen zu lassen. Natürlich haben die Fischer-Gegner sich maßlos vertan, als sie versucht haben, Fischer mundtot zu machen. Die frenetische Reaktion auf Fischer hat im Ausland die Plausibilität seiner Thesen eher verstärkt. Man darf übrigens auch nicht vergessen, daß die Lehre der deutschen Schuld im anglophonen Ausland mitunter ganz andere Konsequenzen hatte. Sie bot eine Grundlage für die Haltung: Wir sind immer die Guten gewesen, wir führten schon immer die gerechten Kriege. Mit der These, das Unheil sei stets allein von den Deutschen gekommen, wurden gewissermaßen andere Traditionen geopolitischer Gewalt legitimiert – ein vielleicht unerwünschtes Ergebnis der deutschen Schuldthese.

 

Prof. Dr. Christopher Clark, „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (DVA) heißt das neue Buch des Historikers an der britischen Universität Cambridge. Das in den deutschen Feuilletons überwiegend gefeierte, „glänzend geschriebene“ (DLF) Werk sei „eine Wucht“(SZ) und werde „für Unruhe sorgen“ (FAZ). Denn es breche „mit dem seit Jahrzehnten geltenden Dogma von der deutschen Alleinschuld“ (ARD) am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und biete eine „umfangreiche Neuinterpretation“ (Frankfurter Rundschau) der Geschehnisse. Bereits mit seinen 2007 und 2008 auf deutsch erschienenen Büchern „Preußen. Aufstieg und Niedergang“ und „Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers“ sorgte Clark für Aufmerksamkeit, da er der These vom preußischen und wilhelminischen Irr- und Sonderweg Deutschlands widersprach, Preußen und dem Reich attestierte, normale europäische Staaten gewesen zu sein. Geboren wurde Clark 1960 im australischen Sydney.

Foto: Kriegsbegeisterung in Berlin 1914: „Es gab keine deutsche Verschwörung zum Krieg“

 

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