© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Depression ist vermeidbar
Zentralbanken: Die Nullzinspolitik gefährdet die Weltwirtschaft / Rückkehr zu marktgerechten Sätzen?
Wilhelm Hankel

Wenige Tage vor Weihnachten verkündete Ben Bernanke, der scheidende Chef der mächtigsten Notenbank der Welt, was die zahlreichen Marktanalysten seit Wochen orakelten: Das Federal Reserve System (Fed) reduziert den Umfang des monatlichen Ankaufs von US-Staatsanleihen und hypothekenbesicherten Kreditpapieren ab Januar von 85 auf 75 Milliarden Dollar. Damit wird weniger Geld in den Wirtschaftskreislauf gepumpt – doch die Stimmung an den Börsen trübte das nicht. Die weltweiten Aktienindizes erklommen sofort neue Bestmarken, der Dax gewann innerhalb von nur zwei Tagen über 300 Punkte.

Die Erklärung liefert eine zweite Ankündigung aus Washington: Das Haupt­instrument der Fed bleibe die Zinspolitik. „Wir erwarten, daß die Zinsen für sehr lange Zeit niedrig bleiben“, so Bernanke. Das schloß seine Stellvertreterin und designierte Nachfolgerin Janet Yellen mit ein. Auch die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England und die Bank of Japan ohnehin sind längst auf Niedrigzinskurs zwischen null und 0,5 Prozent.

Yellen wird wie EZB-Präsident Mario Draghi beweisen müssen, daß sie virtuoser auf dem Zinsklavier spielen kann als ihre Kollegen: monetär und währungspolitisch. Trotz blockierter Zinsbremse müssen sie die Inflation im Griff behalten, während ihre schwächeren Amtskollegen – etwa in der Schweiz – vor der gegenteiligen Aufgabe stehen, ihrer hausgemachten Deflation nicht allzuviel Spielraum einzuräumen. Denn die Nullzinspolitik verändert diesseits wie jenseits des Atlantiks das Anlageverhalten ihrer Sparer.

Welchen Sinn hat es für Sparer noch, Geld bei Banken, Sparkassen oder Versicherern zu parken, wenn die Rentabilität weit hinter anderen, kaum weniger sicheren Anlagen zurückbleibt? Schon jetzt orientieren sich immer mehr statt am bequemen Sparkonto an attraktiveren Realanlagen: an Immobilien, Aktien oder sogar undurchsichtigen Finanzprodukten. Doch volkswirtschaftlich bedeutet dieses veränderte Anlageverhalten: Immer mehr neugebildetes Kapital fließt in altes, bereits vorhandenes – etwa in die solide VW-Aktie oder das Mietshaus in München. Für innovative Aufgaben steht das Sparkapital damit nicht mehr direkt zur Verfügung. Die Gesellschaft verkrustet. Die Chefs der kapitalistischen Geldmaschine in den Zentralbanken graben mit ihrer Niedrigzinspolitik dem ihnen anvertrauten System das Wasser ab. Die EZB soll sich im Rahmen der Euro-Bankenunion künftig zusätzlich in polizeilichen Nebenaufgaben wie der Überwachung des Bankenapparates verzetteln, statt ihrer zentralen Systemverantwortung nachzugehen.

Gleichzeitig empören sich Washington wie Brüssel (JF 46/13) seit Monaten über deutsche Leistungsbilanzüberschüsse. Deutschland betreibe Export-Dumping, denn die Ausfuhrpreise lägen unter den realen Lohnstückkosten. Doch die seit Jahrhunderten bestätigte Wahrheit lautet anders: Die Ware folgt dem Geld, der Kredit regelt und bestimmt den Einkauf. Deutsche Firmen zwingen niemanden, ihre Produkte zu kaufen.

Auch die dramatischen Auswirkungen des veränderten Sparverhaltens auf Bankbilanzen und die Liquidität des Finanzsektors sind längst sichtbar. Die Eigenliquidität des Sektors nimmt ab, die Bestände im Auftrags- und Verwaltungsgeschäft dagegen nehmen zu. Noch stehen die Märkte der Staatsschulden- wie der Lebensversicherungsfinanzierung unter keinem akuten Druck. Doch er wird kommen. Dann werden sich die Schuldner fragen, was ihnen das verbilligte Geld nützt, wenn es zu den Niedrigzinssätzen nicht zu haben ist?

Genau das war auch die Situation vor 80 Jahren, als sich die westliche Welt unter John Maynard Keynes’ überragendem Einfluß aus den Zwängen der damals globalen „Great Depression“ zu befreien versuchte. Zwar waren niedrige Zinsen verordnet, doch es fehlte das private Geld. Daher brauchte man den Staat – und am Ende der Staatsschuldenorgien stand der Zweite Weltkrieg. Ohne Rückgriff und Wiederaufbau der staatlichen Schuldenpyramiden lief in den dreißiger Jahren gar nichts.

Und heute? Auch diesmal stehen die Chefs der westlichen Geldpolitik vor der Frage, ob ihnen die erhofften Vorteile der Nullzinspolitik die sich abzeichnenden Verklemmungen der Märkte wert sind. Nullzinsen, die keine sind, weil sie anderweitig – mit zusätzlichen Kosten der Staatsverschuldung – bezahlt werden müssen, bringen nichts. Daher könnten die Zentralbanken zu den marktwirtschaftlichen Methoden der Zinsgestaltung zurückkehren. Es bleibt jedoch die Frage, ob es gelingt, die in den großen Währungsräumen (Dollar, Euro, Yen) bereits laufenden deflatorischen Prozesse zu stoppen. Sicher wäre man nur, wenn die Gefahr marktbestimmter Zinssteigerungen gar nicht erst aufträte.

Das aber setzt eine koordinierte Geldpolitik der großen westlichen Zentralbanken voraus: am offenen Markt, orientiert an Zins und Finanzierungskosten. Und müssen dafür nicht auch die kleineren Zentralbanken eingebunden werden? Der Internationale Währungsfonds (IWF) muß Antworten liefern. Der schwedische Ökonom Knut Wicksell wies bereits um die vorige Jahrhundertwende auf die Einheitlichkeit des Kreditrohstoffs im gesamten Finanzsektor hin: Zuschüsse aus dem schier unerschöpflichen globalen Liquiditätspotential der Zentralbanken würden dieselbe Finanzierungsleistung ermöglichen wie die der Geldanlagen der Sparer – sogar ihre Alterssicherung ließe sich kontrolliert und inflationsfrei finanzieren.

Wicksells „natürliche Zinsen“ zeigen an, welches Wachstum in einer marktwirtschaftlich vernetzten Weltwirtschaft finanziert werden kann. Diesen Indikator gilt es zu nutzen; er macht die in der Globalisierung versteckten Realeinkommenseffekte der heutigen Weltwirtschaft sichtbar. Und die Zentralbankgouverneure würden sowohl die Chancen wie Grenzen ihrer Politik zielgenauer erkennen. Warum gibt man daher marktwirtschaftlich bewährte Instrumente wie den Marktzinsmechanismus aus der Hand, wenn bessere Methoden gar nicht zur Verfügung stehen?

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war in als Leiter Geld und Kredit im Wirtschaftsministerium oberster deutscher Bank- und Kreditaufseher.

www.prof-hankel.de

Foto: Fed-Chef Bernanke: „Die Zinsen bleiben für sehr lange Zeit niedrig“

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