© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Das Unternehmen Schneeflocke
Auf den Spuren des Johannes Kepler: 2014 hat die Uno zum Jahr der Kristallographie ausgerufen
Robert Backhaus

Die Uno hat das Jahr 2014 zum Jahr des Kristalls erklärt, genauer: zum „internationalen Jahr der Kristallographie“. Die Differenzierung ist wichtig. Auf Kristallen ruhen alle Augen wohlgefällig, aber beim Anblick der Kristallographie, also der Wissenschaft von den Kristallen und ihrer technischen Nutzung, verhüllen selbst größte Experten sehr schnell resignierend ihr Haupt. Man kann es nicht anders sagen: Die Kristallographie ist, war immer und wird immer sein ein einziges Chaos, und je mehr man herauskriegt, um so verworrener und unübersichtlicher wird die Lage.

Andererseits wirft das Fach zunehmend gesellschaftlichen Nutzen ab, nicht zuletzt für die Forscher selbst. Sage und schreibe dreiundzwanzig Chemie- und Physiknobelpreise wurden bisher für die Erforschung kristalliner Probleme verliehen. Kristallographie und sogenannte „Grundlagenforschung“ sind inzwischen faktisch dasselbe. In der Resolution zum UN-Jahr heißt es denn auch, „daß unser Verständnis der materiellen Beschaffenheit der Welt vor allem auf unseren Kenntnissen der Kristallographie gründet“.

Kristallographie ist, so tönt es vielerorts, „unverzichtbar“ für die Bewältigung aller möglichen Krankheiten und Umweltschäden geworden, „da sie Protein- und Kleinmolekülstrukturen identifizieren hilft, die für die Entwicklung von Medikamenten wesentlich sind, und Lösungen für Pflanzen- und Bodenkontamination bietet“. Und weiter im Uno-Text: „Das Jahr 2014 soll die große Bedeutung der Kristallographie im Bereich der Medizin, in der Nanotechnologie und in der Biotechnologie unterstreichen.“ Millionen Dollars winken also, inklusive reich dotierter Posten quer über den Globus.

Bereits am 20. Januar wird es am Sitz der Unesco in Paris einen monumentalen Eröffnungskongreß geben, dem später regionale Gipfel in Südafrika, Pakistan und Brasilien folgen sollen. Für weltweite Aufmerksamkeit ist bestens gesorgt. Doch wahrscheinlich werden alle diese Großveranstaltungen ausgehen wie die berüchtigten Weltklimakonferenzen und ähnliche Ereignisse, nämlich wie das sprichwörtliche Hornberger Schießen. Einem Maximum an bürokratischem und medialem Aufwand werden ein Nichts an realen Ergebnissen und eine Vertiefung der allgemeinen Mißverständnisse gegenüberstehen. Dabei ist das zu beackernde Feld wahrhaft riesig, verlangt aber dennoch höchste Spezialisierung, Konzentration auf oft winzigste Detailverhältnisse.

Kristalle sind Körper mit gleichmäßigen, ebenen Flächen, in denen die Atome, Moleküle oder Ionen raumgitterartig angeordnet sind, das heißt in einer regelmäßigen, räumlich stabilen Position, die sich in mathematischen Formeln ausdrücken läßt. Die mathematische Gruppentheorie zeigt, daß es insgesamt 230 mögliche Anordnungen der Gitterbausteine in einem Kristall gibt, welche sich in zahllose Symmetrieklassen einordnen lassen.

Für die Kristallographen geht es um die Erforschung dieser Symmetrieklassen und um die Klärung der Frage, was sie für die Welt der Physik, der Chemie oder der Biologie bedeuten und ob sie überhaupt etwas bedeuten. Man erkundet die natürlichen Voraussetzungen für Kristallisation, wägt den Kristallisationsgrad diverser Gesteinsschichten ab, untersucht das Verhalten von Lichtwellen in Kristallen, widmet sich der Herstellung künstlicher Kristalle. Der Themenvielfalt sind buchstäblich keine Grenzen gesetzt.

Mancher Wissenschaftlicher beschäftigt sich auch mit der Geschichte der Kristallographie. Jahrtausendelang galten Kristalle exklusiv als ebenso rätselhafte wie wundersame, visuellen und/oder geschmacklichen Genuß bereitende Phänomene. Ihr Name bedeutete am Anfang nichts weiter als „Eis“. Kristalle waren Eis – Schneeflocken, aber auch Kochsalz, weiterhin Bruchstücke „reiner“, nicht von anderen Stoffen „verschmutzter“ Metalle, Diamanten und Brillanten. Man freute sich an ihnen, kämpfte um sie, feierte sie als Himmelsgaben oder Meisterwerke unterirdischer Schmiede und Feuergeister.

Als erster Wissenschaftler interessierte sich Plinius der Ältere (26 bis 79 n. Chr.) für Kristalle. Er erkannte ihren symmetrischen „oktaedrischen Habitus“, an ihn knüpfte in der Renaissance Georg Agricola in seinem 1546 erschienenen Buch „De natura fossilium“ an. Und Johannes Kepler gelangte 1611 bei seiner Analyse des Aufbaus der Schneeflocken zur sogenannten „Keplerschen Vermutung“, wonach die kristalline Form materieller Teilchen die bestmögliche Ausfüllung des euklidischen Raums darstelle, gleichsam die ideale Weltverpackung, zu der jegliche Körpereinheit dank des Willens Gottes hinstrebe, wenn man sie nur lasse.

In der Folgezeit wimmelte es an den Universitäten Europas geradezu von allen möglichen Raumkristallforschern, doch außer Vermutungen haben sie kaum etwas zustande gebracht. Erst 1912 wurde eine haltbare Stufe erklommen, und zwar von Max von Laue, dem es mit Hilfe der sogenannten Röntgenbeugung gelang, die dreidimensional periodisch aufgebaute Raumstruktur der Kristalle nachzuweisen (erster Nobelpreis für Kristallographie). Die Arbeiten Laues ermöglichten in den folgenden Jahrzehnten die berühmte Aufklärung der Kristallstruktur der Desoxyribonukleinsäure durch James Watson und Francis Crick (1953) und der des Insulins durch Dorothy Crowfoot (1969).

Seitdem nun ist die wissenschaftliche (und Uno-bürokratische) Treibjagd auf die möglichen Eigenschaften der Kristalle und die damit verbundenen möglichen Nobelpreise eröffnet. Besonders stürmisches Interesse provoziert verständlicherweise der Nachweis der Existenz biologischer Kristalle. Daß es tatsächlich organische Stoffe, zum Beispiel Proteine, in Form von Kristallen gibt, scheint nachgewiesen, allerdings nur in seltenen Ausnahmefällen im Pilz- und Pflanzenbereich. Das größte Augenmerk der Kristallographie richtet sich derzeit aber auf die Schneeflockenforschung in der Spur des Johannes Kepler.

Warum, so wird gefragt, kristallisiert das Wasser, das bei der Bildung fallender Schneeflocken theoretisch zehn verschiedene Feststrukturen annehmen könnte, immer nur als „hexagonales Eis“, so daß sich diese schönen Gebilde mit sechszähliger innerer Symmetrie bilden? Fest steht bisher nur: Sind die äußeren Verhältnisse günstig, nämlich im ungestörten Schwebezustand, weder zu warm noch zu kalt, ergibt sich immer (immer!) jene schöne hexagonale Symmetrie. Und kein Zufall verschmutzt etwas, konträr: der Zufall wird zum Diener der Individualisierung, wir erhalten lauter ideal symmetrische Sechsecke, von denen indes kein einziges dem anderen gleicht.

Man bedenke: Keine unter den Trilliarden und Abertrilliarden von Schneeflocken gleicht der anderen, doch alle sind gleich schön auskristallisiert! Da kann es nicht wundernehmen, daß – lange vor jeglicher modernen Kristallographie – immer wieder Ästhetiker und Literaten dem Phänomen „Schneeflocke und Hexagon“ nachsannen. Martin Opitz, Goethe, Novalis wären zu nennen, später Hofmannsthal oder Stefan George mit Gedichten, in denen voller Sehnsucht gefragt wird, bei welchem Temperatur- oder besser: Temperamentsgrad denn ein Sprachstück zur „Schneeflocke“ zusammenschießt und jedem Wort seinen Gitterplatz im poetischen Kristall zuweist.

Heute nun sind es in erster Linie sozial interessierte wissenschaftliche Kristallographen, die mit Eifer der Frage nachhängen, ob man, wenn nicht die Poesie, so doch vielleicht sogar die Gesellschaft insgesamt in eine Art ungestörten Schneeflockenfall verwandeln könnte, also in lauter Kristalle ohne die geringste „Verschmutzung“, durch welche die volle Kristallisation behindert würde. Jede einzelne Flocke also völlig einmalig in ihrer inneren und äußeren Gestalt, absolut autonom – und dennoch fest verwurzelt in ihrem Raumgitterplatz, aus dem sie Lebenskraft und Lebensfreude zieht. So etwas wäre einen Nobelpreis wert und eines Dankeschöns von der Unesco in Paris dazu.

Freilich sollte man dabei stets mitbedenken, daß gewaltsame Eingriffe von außen gerade nicht zum schönen Kristall führen, daß hier alles auf die Erfüllung innerster Gesetzmäßigkeiten ankommt. Nicht eherner Bergkristall also und schon gar nicht synthetisch zusammengerührter Chemiekristall taugen als Metapher für gelungene gesellschaftliche Zustände, sondern einzig das „Unternehmen Schneeflocke“. Und die schließlich im Wasser sich auflösende Schneeflocke macht uns auch bewußt, daß keine kristalline Utopie von ewiger Dauer sein kann, zumindest unter irdischen Verhältnissen nicht.

Foto: Wunder der Natur: Keine unter den Trilliarden und Abertrilliarden von Schneeflocken gleicht der anderen

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