© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Europa und die Deutschen
Das ausweglose Stattdessen
Alexander Gauland

Für viele Deutsche ist es ein Schock. Hatten sie nicht ihre Vergangenheit schmerzhaft aufgearbeitet und mit Hitler und seinen braunen Verbrechern auch noch manch andere Figuren der deutschen „Daseinsverfehlung“ (Karl Jaspers) in Acht und Bann getan? Schließlich, so die Logik der Achtundsechziger, konnte Hitler nicht aus dem Nichts gekommen sein, und also war Kaiser Wilhelms „Griff nach der Weltmacht“ ebenso von Übel wie Bismarcks gewaltsame Reichseinigungspolitik oder Luthers Antisemitismus. Oder begann Deutschlands Fehlentwicklung nicht schon mit Hermann dem Cherusker, der die römische Zivilisation abwerfen und so Deutschlands langen Weg nach Westen gleich zu Beginn blockieren wollte?

Gründlich und nachhaltig wollte die deutsche Geschichtsrevision sein. Deutsche, so die Hoffnung vieler, sind wir nur noch dem Namen nach, Europäer aber mit Herz und Verstand. Endlich, so Kohls und Schäubles Überzeugung wie die grüne Vision, ist Europa an die Stelle seiner Nationen getreten. Ich kenne keine Deutschen, Franzosen oder Polen mehr, ich kenne nur noch Europäer, könnte man ein berühmtes Wort des letzten deutschen Kaisers aus dem Jahre 1914 abwandeln.

Von einer wissenschaftlichen Konferenz in Moskau berichtete ein bekannter deutscher Historiker, daß die deutschen Teilnehmer von ihren russischen Kollegen nach deutschen Interessen in einer multipolaren Welt gefragt wurden und übereinstimmend, mit einer Ausnahme, das Bestehen deutscher Interessen verneinten. Wieder war es der gleiche Reflex: Wir kennen keine Deutschen mehr, wir kennen nur noch Europäer. Ob sich da nicht manche an ein böses Churchill-Wort erinnert fühlten? – Die Deutschen hat man entweder an der Gurgel oder sie küssen einem die Füße.

Und nun das: Angela Merkel mit Hitlerbärtchen und in SA-Uniform, Massendemonstrationen gegen die Kanzlerin und das Brüsseler Diktat von Athen bis Madrid und wachsendes Mißtrauen zwischen Paris und Berlin. Die deutsche Frage liegt wieder auf den Verhandlungs­tischen der Weltpolitik. Es ist, Gott sei Dank, keine Frage mehr von Krieg und Frieden, aber eben doch die alte: Sind Deutschland und seine Wirtschaft zu stark für Europa, zerstören wir das inner­europäische Gleichgewicht, und sollten wir führen oder uns einfügen?

Von der halbhegemonialen Stellung Deutschlands sprach nach der Katastrophe von 1945 der deutsch-jüdische Historiker Ludwig Dehio und analysierte damit zum ersten Mal wissenschaftlich, was Bismarck sein Leben lang beschäftigt hatte: Wie verträgt sich ein geeintes Deutschland mit der Ruhe und dem Frieden Europas? Die Antworten sind im Laufe der Zeit unterschiedlich ausgefallen, die Frage selbst aber ist auch nach Einführung des Euro zum Entsetzen vieler Deutscher wieder offen.

Deutschland und Europa – das ist eine lange spannungsreiche Geschichte, spannungsreicher als die Beziehungen Englands oder Frankreichs zum alten Kontinent, obwohl beide koloniale Expansion mit Weltmachtträumen verbanden, die Europas Grenzen sprengten; doch nur die deutsche Expansion und Weltpolitik zerstörten das europäische Gleichgewicht. Die Gründe dafür reichen weit zurück. Heinrich August Winkler beginnt seine deutsche Geschichte – „Der lange Weg nach Westen“ – mit dem Satz: „Im Anfang war das Reich. Was die deutsche Geschichte von der Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet, hat hier seinen Ursprung.“

Denn das Reich war eben nicht Teil Europas wie die entstehenden Nationalstaaten, es war in seinem Selbstverständnis wie in seiner Symbolik Europa selbst, das ganze Europa, wie es aus dem Römischen Reich hervorgegangen war und über Karolinger und Ottonen bis zu den Habsburgern und der Glaubensspaltung diesen Anspruch auf das Ganze immer aufrechterhalten hatte. Mochten die Grenzen auch enger werden und Italien in Stadtstaaten zerfallen, das Reich war immer mehr als Deutschland, es hatte bis zu seinem Untergang im Jahre 1806 eine europäische Dimension, die gespeist wurde vom Mythos der Translatio imperii, der Übertragung des Römischen Reiches. Doch die Macht folgte nicht dem Mythos, im Gegenteil, nach dem Dreißigjährigen Krieg war das Reich nur noch eine leere Hülle, dessen Anspruch sich „im Luftreich des Geistes“ (Heinrich Heine) bewegte. Denn neben und losgelöst von ihm waren in Spanien, Frankreich und England mächtige Nationalstaaten entstanden, zu denen später Schweden und im 18. Jahrhundert Rußland hinzukamen.

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war damit vom Subjekt zum Objekt der Weltgeschichte geworden, und es wurde erklärte französische Politik, nie einen deutschen König und schon gar nicht ein deutsches Reich zuzulassen. Ein machtloses Deutschland, so die französische Lesart, war die beste Garantie für den europäischen Frieden.

Es war also kein Wunder, daß der deutsche Wunsch nach Einheit, der nach den antinapoleonischen Befreiungskriegen immer stärker wurde, auf europäische Vorbehalte stieß, auf französische zuerst, aber auch auf britische und russische. Wenn man Österreich, Preußen und das dritte Deutschland der Mittelstaaten zusammenfügte, bekam Europa Angst vor zu viel deutscher Dynamik. Daran scheiterten auch die revolutionären Einigungsversuche von 1848. Und so konnte der britische Außenminister Palmerston sarkastisch feststellen: „Gegen die Idee der deutschen Einheit ist nichts einzuwenden, außer daß niemand sie scheine zustande bringen zu können.“ Europa und Deutschland, so schien es noch 1848, waren Gegensätze. Das eine schloß das andere aus.

Das Fenster der Gelegenheit, diese Ordnung umzustürzen, öffnete sich mit dem Krimkrieg 1856 um die Dardanellen und das osmanische Erbe in Europa. Die deutschen Vormächte, Österreich und Preußen, blieben zwar formal neutral, aber Österreich mit einer antirussischen und Preußen mit einer prorussischen Spitze. Damit zerbrachen die stehengebliebenen Pfeiler der Heiligen Allianz, und Österreichs Undankbarkeit gegenüber Rußland – der Zar hatte dem jungen Kaiser Franz Joseph bei der Unterdrückung des ungarischen Aufstands geholfen – kostete es seinen wichtigsten Verbündeten. Daß am Ende die deutsche Einheit zustande kam, ist Bismarcks Genie zu verdanken, seinem Sinn für europäische Geschichte und europäisches Gleichgewicht. Es war die größte Revolution des 19. Jahrhunderts, größer noch als die französische von 1789, bemerkte der britische Premier Benjamin Disraeli.

Doch das Verständnis der Deutschen für diese Leistung blieb beschränkt. Erst beklagten viele, daß die Deutschen Österreichs noch immer in einem eigenen Staat leben mußten, später wollten manche Kolonien, Weltpolitik und einen „Platz an der Sonne“. Der Ritt auf der Rasierklinge, der Bismarck gelungen war, überstieg das Fassungsvermögen der „Weltpolitiker“ von Bülow über Max Weber bis zu Wilhelm II. Bismarcks Einsicht von der beschränkten deutschen Handlungsfähigkeit in der Mitte Europas verblaßte. Auch wenn die Vorwürfe, Deutschland habe schon den Ersten Weltkrieg ausgelöst, ausgerechnet von der englischen Geschichtsschreibung (Christopher Clark) widerlegt werden, bleibt der Vorwurf einer dummen Außenpolitik bestehen, jedenfalls zu dumm für ein etwas zu großes Land in der Mitte Europas.

Adolf Hitler war nicht die Folge einer von Anfang an verfehlten Entwicklung. Unnachahmlich hat das der Historiker Golo Mann ausgedrückt: „Die Geschichtsschreiber tun Hitler viel zuviel Ehre an, die uns glauben machen wollen, es habe Deutschland seit 100 Jahren nichts anderes getrieben, als sich auf das unvermeidliche Ende, den Nationalsozialismus vorzubereiten.“ Allerdings hat dieser Nationalsozialismus die deutsche Sicht auf den Nationalstaat und damit auch auf Europa entscheidend verändert. Als alles vorbei war und Hitler im Bunker seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, schien auch die deutsche Geschichte erst einmal zu Ende.

Von Sebastian Haffner stammt die auf den ersten Blick erstaunliche Beobachtung, daß Hitler bei weitem am meisten, objektiv betrachtet, Deutschland geschadet hat. Dabei sind es nicht nur die Menschenopfer und der Verlust von einem Viertel des Staatsgebietes, es sind vor allem die seelischen Wunden, die das nationalsozialistische Abenteuer den Menschen geschlagen hat. Während Franzosen und Engländer trotz allen Machtverlustes ihre nationale Identität unversehrt erhalten haben, ist Deutschland trotz Wiedervereinigung und Fußballsiegen ein unsicheres Land, in dem fast jeder Gedenktag und jede große historische Erscheinung erst einmal danach abgesucht werden, ob sich auch keine Spurenelemente der braunen Vergangenheit darin finden.

Jener unmittelbare Bezug zur eigenen Geschichte, den die Parade auf den Champs-Élysées an jedem 14. Juli und die jährliche Eröffnung des Parlaments durch die Königin vermitteln, fehlt den deutschen Erinnerungen. 17. Juni, 20. Juli und 9. November – die Daten mahnen an gescheiterte Aufstände und Umbrüche. Und jener 3. Oktober, der die deutsche Wiedervereinigung würdigen soll, ist ein künstlich festgesetztes Datum, gewählt aus Angst vor dem 9. November, der in der deutschen Geschichte mit mehr negativen als positiven Ereignissen verbunden ist.

Deutschland hat zwar seine Einheit zurückgewonnen, aber seine Seele verloren – und so ist das europäische Bekenntnis an diese Leerstelle getreten, die bei anderen oft spöttische Nachsicht auslöst. Wer sich als Europäer bekennt, hat sich schon als Deutscher enttarnt, schrieb kürzlich ein kluger Beobachter. Und so sind europäische Einigung und Euro an die Stelle der eigenen Nationalerzählung getreten, was die deutschen Eliten fast automatisch in einen Gegensatz zu polnischen, französischen oder britischen Patrioten bringt. „Right or wrong, my country“ ist in Deutschland zu „Right or wrong, Europe“ mutiert – ein neuer deutscher Sonderweg, der uns wiederum keine Freunde schaffen wird.

Denn das ist der Unterschied des deutschen zum französischen oder polnischen Europa-Verständnis. Polen und Franzosen betrachten die europäische Einigung als einen Kraftzuwachs für ihre nationalen Ambitionen und Träume, als eben jenen Ausgleich für die relative Machteinbuße aller europäischen Staaten; die Deutschen möchten in Europa ihre Geschichte und ihre nationalen Aspirationen hinter sich lassen, sie möchten aufgehen in einem Bundesstaat Europa. Daher das „Alternativlose“ der Europa­politik, das Gerede von Krieg und Frieden und die sich anschließenden Untergangsszenarien: Scheitert der Euro, so scheitert Europa.

Europa ist für die deutschen Eliten keine pragmatische Ergänzung zu einer deutschen nationalen Erzählung, sondern auswegloses Stattdessen. Und so kann nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf, daß die nationalen Erzählungen auch im Europa des 21. Jahrhunderts ihre Gültigkeit behalten haben und jede weitere Vergemeinschaftung auf den Widerstand von Holländern, Briten oder Finnen stoßen wird.

ln Deutschland ist der Europagedanke zur Ideologie geronnen, im Rest Europas bedeutet er bestenfalls nationalen Machtzuwachs. Schon deshalb fällt es allen leichter als uns, in politischen Alternativen zu denken, die Vorteile von gemeinsamem Markt und Euro kühl abzuwägen und auch einmal nein zu sagen, wie es Iren und Franzosen schon taten. Unbewußt oder bewußt versuchen wir, mit Europa die Schande von Auschwitz abzuwaschen, nicht begreifend, daß dies ein nationales Trauma ist und von niemandem sonst, nicht einmal von den an Hitler nicht ganz unschuldigen Österreichern, geteilt wird.

Wir sind noch immer keine normale Nation, und wie uns bis in die Neuzeit hinein das römische Erbe belastete, so jetzt das nationalsozialistische. Doch Europa ist keine Besserungsanstalt, sondern ein Bündnis freier Nationen zu gegenseitigem Nutz und Frommen. Der Blick zurück auf Auschwitz war wichtig und richtig, um mit uns selbst ins reine zu kommen; als europäisches Memento mori ist er untauglich. Nur wenn die Deutschen das begreifen, gibt es die Chance für eine realistische deutsche Sicht auf Europa.

 

Dr. Alexander Gauland, Jahrgang 1941, ist Mitgründer und Vizeparteisprecher der AfD. Der konservative Publizist (Criticón, Cicero) wurde 1987 Staatssekretär in der hessischen Staatskanzlei unter CDU-Ministerpräsident Walter Wallmann. Bis 2005 war Gauland Herausgeber der Märkischen Allgemeinen.

Foto: Antideutsche Proteste in Athen am Maifeiertag 2013: Die deutsche Frage liegt wieder auf den Verhandlungs­tischen der Weltpolitik

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