© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Ein Racheakt sät einen neuen Krieg
Das Gift von Versailles: Hans-Christof Kraus über den unseligen Friedensvertrag von 1919
Andreas Graudin

Das „Jus Publicum Europaeum“ wird in der Rechtsgeschichte als die Periode zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Ersten Weltkriegs bezeichnet. Es kennzeichnet die Periode des von Europa geprägten Umgangs der Staaten untereinander, die trotz gelegentlicher Kriege keine moralische Demütigung oder Vernichtung einer Kriegspartei zum Ziel hatte. Nach einem Krieg sollte vielmehr immer ein Ausgleich für ein neues Gleichgewicht der Kräfte sorgen. Die prinzipielle Gleichberechtigung am Verhandlungstisch blieb gewahrt. Das geschah im Westfälischen Frieden ebenso wie nach den Schlesischen Kriegen und nach den Napoleonischen Kriegen beim Wiener Kongreß. Auch nach dem Krimkrieg und 1871 blieben Rußland und Frankreich als europäische Großmächte voll satisfaktionsfähig.

Mit den Pariser Vorortverträgen, allen voran denen von Versailles, St. Germain und Trianon, beginnt die Wendung zur Diskriminierung und moralischen Aburteilung von Kriegsgegnern. Die Feindschaft ist absolut, zumindest geht sie weit über den Friedensschluß hinaus. In der Reihe „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert“ des Berliner Bebra-Verlages wird das vorige Jahrhundert in seinen Epochen aufgearbeitet. Der Verlag selbst nennt die Reihe im Editorial etwas unglücklich „populär“. Das gilt nur, wenn es nicht als Widerspruch zur Wissenschaftlichkeit der Beiträge gemeint ist.

Die Palette reicht vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Hans-Christof Kraus, Ordinarius in Passau, widmet den vierten Band dieser Reihe der schiefen Ebene, die von der deutschen Bitte um Waffenstillstand am 4. Oktober 1918 bis zu Hitlers Machtergreifung reicht. Kraus folgt nicht der These einer Zwangsläufigkeit der NS-Machtübernahme wegen Versailles. Das hieße die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre auszublenden. Wohl aber sieht Kraus im Scheitern der Revisionsbemühungen der Demokraten in den Kernpunkten des Vertrages einen wichtigen Grund für das Scheitern der Weimarer Demokratie.

Hierbei sind nicht die Grenzverschiebungen und auch nicht die zu Lasten Deutschlands manipulierten Volksabstimmungen in den Grenzregionen, sondern die monströse Reparationslast und die Kriegschuldfrage die beiden entscheidenden Faktoren. Während es Außenminister Gustav Stresemann und, leider zu spät, Reichskanzler Heinrich Brüning gelingt, die Reparationslast einzudämmen, bleibt Deutschland mit seinen Souveränitätseinschränkungen ein Paria in der Staatengemeinschaft. Es hätte objektiv die Chance bestanden, in den zwanziger Jahren zum „Jus Publicum Europaeum“ unter dem Dach des Völkerbundes zurückzukehren, wenn es damals schon zu einer deutsch-französischen Aussöhnung gekommen wäre.

Frankreich fehlte trotz der hoffnungsvollen Annäherung von Stresemann und Aristide Briand zu einer realistischen Revision des notdürftig als Vertrag bemäntelten Versailler Siegerdiktats der Mut. Der Zusammenhang von internationaler Pariastellung und innenpolitischer Radikalisierung wurde damals nicht erkannt.

Die Pariser Vorortverträge liegen uns heute fern. Aus dem allgemeinen Bewußtsein sind sie verschwunden. Das führt dazu, daß einzelne Historiker „Versailles“ verharmlosen und etwa mit dem kurzatmigen und kaum wirksamen Frieden von Brest-Litowsk vom März 1918 Vergleiche ziehen. Brest-Litowsk war ein harter Frieden, und die Absicht zwischen der bolschewistischen Revolution und Mitteleuropa einen Puffer zu bilden, war klar erkennbar. Dennoch war eine Knebelung und Diskriminierung Sowjetrußlands von Deutschland und Österreich-Ungarn nicht beabsichtigt.

Die Bolschewiki, allen voran Lenin, strebten den Vertrag schon deshalb an, weil er nichts weniger als die Anerkennung der Sowjetmacht durch die Mittelmächte bedeutete. Eine Kriegsschuldfrage, Entwaffnung oder Reparationen spielten keine Rolle und, anders als Sieger und Besiegte in Versailles, saßen sich die Mittelmächte und Lenins Abgesandte gleichberechtigt gegenüber.

Versailles dagegen wollte aus höherem Recht strafen, diskriminieren und vorsätzlich demütigen. Deutschlands Reparationslast wurde erst Jahre später in Abkommen überhaupt beziffert. Bei der 1919 unter dem Druck einer drohenden alliierten Besetzung Deutschlands zustande gekommenen Ratifizierung der verfassunggebenden Nationalversammlung mußte von einer unbegrenzten und unbefristeten Haftung Deutschlands ausgegangen werden. In der Drohung, Deutschland im Verweigerungsfall zu besetzen, offenbart sich die ganze Ungeheuerlichkeit des Vertrages als erpresserischer Diktatfrieden. Das war im übrigen auch nicht der Frieden, für den die Linke Munitionsstreiks und Meutereien initiierte. Diese vertraute fälschlich auf 14 Punkte von US-Präsident Woodrow Wilson. Bis zum Ende der Weimarer Republik trat auch die KPD für eine Revision des Versailler Vertrages ein.

Kraus’ Studie gerät zwangsläufig zu einer Darstellung der Weimarer Republik. Ihr Schicksal und Versailles sind untrennbar, und es ist sinnvoller, „Weimar“ durch die „Versailler“ Brille endgültig zu bewerten, als sich in den wechselhaften Kabinetten und Koalitionen oder biographischen Details der Akteure zu verlieren. Kraus tut genau dies. Es bleibt ein geschliffen konzises Werk, das allein für die intellektuelle Leistung der lückenlosen Beschränkung des komplexen Stoffs auf unter 200 Seiten Lob verdient. Das Buch hat das Zeug zum Standardwerk zu Weimar und Versailles. Wer mehr sucht, sei zur Vertiefung auf die Werke von Ernst Rudolf Huber, Heinrich Euler und Ferdinand Friedensburg verwiesen.

Eine sachlich wissenschaftliche Abhandlung über „Versailles und die Folgen“ vor dem 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges ist schon wegen der im Sommer 2014 zu erwartenden medialen Bemühung angeblicher deutscher Alleinschuld wichtig. Zwar geht Kraus nicht auf die Bündnismechanismen der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein. Wohl aber gelingt es ihm, an die Ungeheuerlichkeit und Monströsität dieser vielfach wiederholten Lüge in ihrer diabolischen Langzeitwirkung zu erinnern. In der Geschichtswissenschaft wird ihm wahrscheinlich, schon wegen seiner wissenschaftlichen Redlichkeit und Präzision, kaum widersprochen werden können.

Hans-Christof Kraus: Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933. Bebra Verlag, Berlin 2013, gebunden, 198 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

Foto: Verhandlungsführer im Spiegelsaal von Versailles 1919, US-Präsident Woodrow Wilson (Mitte mit Arbeitspapier), rechts daneben Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau und der britische Premier Lloyd George: Als Vertrag bemänteltes Siegerdiktat

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