© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Haben Sie schon die Deutschlandkarte?“ Die so junge wie unbedarfte Kassiererin an der Kasse des Edeka-Marktes in meiner Heimatstadt Halberstadt, wo ich 1989 mein Abitur machte, glaubt, ich würde auch hier Punkte sammeln wollen. Flensburg reicht mir allerdings. Überhaupt, dieses Payback-System namens Deutschland läuft ja auch seit der letzten Rate des Versailler Vertrages im Jahr 2010 automatisch weiter, denn „was lange währt, wird – Euro“. So hätte damals mein „Claim“ zur Euro-Einführung gelautet, hätte mich eine Werbeagentur als Texter gebucht.

Nachdem ich gezahlt habe, führt mein Weg in den Lotto-Laden gegenüber, wo ich noch die Zeitung kaufen will, hinter der angeblich immer „ein kluger Kopf“ steckt. Vergeblich. Tatsächlich stehen in dem Zeitungsregal nur noch zwei Titel: die Süddeutsche und die Deutsche Stimme. Was soll’s, denke ich mir, die jungen Leute hier können ohnehin wohl mehr mit Mittelerde als mit Mitteldeutschland anfangen. Am Anfang war das Wort schließlich auch an irgendeinem Ort.

Nach Gerichtsbeschluß – vor Jahresschluß – beräume ich die von meinem Vater erbaute Garage, die die Wohnungsbaugesellschaft gemäß einem sogenannten Schuldrechtsanpassungsgesetz (SchuldRAnpG) entschädigungslos an sich reißt, als wollte sie demonstrieren, daß es nicht nur kalte Enteignungen gibt. In diese Garage brachte ich meinem Vater einst das Telegramm seiner im Sterben liegenden Mutter im Westen, meiner mir eher fremden Großmutter: „Mein Junge, wenn Du mich nochmal sehen willst, dann mußt Du jetzt kommen.“ Ich sehe noch immer, wie mein Vater schluchzend in die Knie ging. Doch die Staatssicherheit ließ meinen Vater nicht reisen, auch nicht vierzehn Tage später zur Beerdigung. Wenn ich an die hierfür verantwortlichen Funktionäre denke, weiß ich, welche Abrechnung noch fehlt.

Zurück in Berlin. Mein früherer Kommilitone aus der Schweiz schaut vorbei und schenkt mir „Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti, die er für einen Euro erworben hat. Der Freund habilitiert sich gerade mit einer Arbeit über Chronos und Kairos – meine Welt scheint weit davon entfernt, jedenfalls war Kairos zu meiner Zeit zuletzt 1989. Das darauf folgende Jahr war gewissermaßen die Vertreibung aus dem Paradies, der Abschied aus einer teleologischen Weltgeschichte. Da tröstet Canettis Conclusio: „Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst erstand.“

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