© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Am Golde hängt doch alles
Aktualität eines deutschen Klassikers: Goethes Analyse der ökonomischen Situation der Moderne / Zweiter Teil einer JF-Serie
Felix Dirsch

Faust fungiert nach Goethes Absicht als Repräsentant der Menschheit. Als solcher ist er immer noch aktuell. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß seit knapp einem halben Jahrhundert das Tatmenschentum, das von Faust wie von keiner zweiten literarischen Figur verkörpert wird, in mancherlei Hinsicht in die Krise geraten ist. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen: Das Baconsche Projekt der Neuzeit, das Wissen in Macht übertragen will, kann für die Menschheit befreiend sein, aber genauso in Totalitarismus und bestialische Gewalt umschlagen.

Warum aber nun diese erstaunliche Modernität von Erzeugnissen, deren Abfassung oft weit über zwei Jahrhunderte zurückliegt? Goethe hat in vielen seiner Schriften eine Fülle an Anspielungen auf politische, soziale und ökonomische Tatsachen vorgenommen. Nehmen wir als Beispiel die Faust-Tragödie. Man kann dieses Opus magnum als Werk lesen, das weltliterarische Motive und Stoffe verarbeitet, aber auch die politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen der Epoche beschreibt. Goethe stellt Mechanismen der Moderne dar (in welcher symbolisch-poetischen Verhüllung auch immer), die in der Gegenwart mitunter erst ihre Vollendung finden.

Besonders auffallend ist diese Aktualität im Hinblick auf Goethes ökonomisches Wissen. In der Bibliothek des Weimarer Staatsmannes befanden sich über vierzig Bücher mit entsprechendem Inhalt. Zudem war er auch mit praktisch-wirtschaftlichen Angelegenheiten befaßt, etwa dem Bergwerksbau.

Im frühen 19. Jahrhundert macht sich die gesteigerte Komplexität der Welt überall bemerkbar. Diese Zunahme an Abstraktion verdeutlicht Goethe anhand der Funktionen und Formen des Geldes. Die Grenze der Welt, die beliebig hinausgeschoben werden kann, ergibt sich für Goethe aus den Möglichkeiten der Wirtschaft. Diese hat sich schon im späten 18. Jahrhundert dahingehend verändert, daß die traditionelle Subsistenz- und Goldwirtschaft mehr und mehr durch die Erwerbswirtschaft verdrängt wurde. Das Geld drückt immer stärker die gewandelten Bedürfnisse der Menschen aus. Man konnte einen Kreislauf von Geld und Wünschen ausmachen. Die vermehrten Bedürfnisse führen zu einer Erhöhung der Geldmenge, diese wiederum heizt erneut die Begierden der Konsumenten an.

Die Schöpfung des Geldes aus dem Nichts

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß Goethe eine Vorstellung seines vielleicht wichtigsten Gewährsmannes Adam Smith ins Reich der Legenden verwies: die Überzeugung, daß die Güterentstehung mit dem Geldvolumen Schritt halten könne. Anders als der Verfasser des Standardwerks „Der Wohlstand der Nationen“ erkannte der angebliche nationalökonomische Dilettant, daß es das Wesen des modernen Papiergeldes sei, nicht mehr vollständig gedeckt zu sein, vornehmlich durch Grundstücke oder Gold.

Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde endgültig anerkannt, wie sehr solche Vorstellungen obsolet sind. Schon die große Weltwirtschaftskrise von 1929/30 hatte gezeigt, daß nur ein kleiner Teil des weltweiten Finanzkapitals den Waren und Dienstleistungen entspricht, der weitaus größere ist Spekulationskapital.

Um 2000 wurde bekannt: Nur zwei Prozent des weltweiten Kapitals entsprechen dem Gegenwert der globalen Güter und Dienstleistungen. Ein Resultat dieses Ungleichgewichts ist die Finanzkrise von 2007/08. Goethe schloß sich Johann Georg Büschs „Abhandlung von dem Geldumlauf“ an, die die Quintessenz kapitalistischer Wirtschaft herausstellt: Demnach wird nicht um der Güter willen hergestellt, sondern um der Vermehrung des Kapitals wegen. Am besten soll mittels Kapital Kapital hervorgebracht werden – durch Spekulation also. Im Faust werden diesbezüglich Metaphern verwendet. Die Schiffe Fausts haben sich um tausend Prozent vermehrt, der Uferstreifen sei „Welt-Besitz“ geworden.

Mephisto folgt im ersten Akt von Faust II der Ansicht John Laws, eines Finanzpolitikers im Auftrag des französischen Königs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dieser besteht darauf, daß Papiergeld durch Grundbesitz gedeckt sei. Doch Laws diesbezügliche Experimente waren gescheitert. Insofern kann es sich kaum um die Meinung Goethes gehandelt haben. Erst im vierten Akt gesteht Mephisto Faust unverhohlen, beim Papiergeld handle es sich um „falschen Reichtum“, mehr um Schein als Sein. Trotz dieser Problematik finden sich bei Goethe Hinweise, die den Übergang von der Metallwährung zum Papiergeld als notwendig verteidigen. Ansonsten hätte keine dynamische Wirtschaft entstehen können.

Wie sehr Faust (wenigstens an einigen Stellen) dem aktuellen volkswirtschaftlichen Diskussionsstand entspricht, sei anhand eines Beispiels belegt. Mephisto betrachtet es als einen Kardinalfehler kaiserlicher Finanzpolitik, daß das Geld, statt produktiv-nachhaltig angelegt, konsumtiv verschleudert worden sei. Nur der Narr sei so klug gewesen, in „Acker, Haus und Vieh“ investiert zu haben, was auf längere Sicht Gewinne abzuwerfen verspricht.

Die kurzfristige Befriedigung von finanziellen Wünschen ist freilich bis heute reizvoll. Viele Analysen der griechischen Staatskrise sehen als Grund für die augenblickliche Situation die völlig falsche Ausgabenpolitik in den Jahren vor 2010. Als „Zinsdividende“ (J. Starbatty) kam billiges Geld in das Land, das größtenteils als Geschenk nach dem Gießkannenprinzip eingesetzt wurde. Die Konsequenzen dürften die europäische Politik noch lange verfolgen.

Interessant ist allerdings, wie Goethe die creatio ex nihilo, die Schöpfung des Geldes aus dem Nichts, erklärt. Einige Anspielungen heben die Einflüsse der Magie hervor. Magie ist für ihn kein Relikt aus voraufgeklärten Zeiten; vielmehr liegt ihre Funktion in der unnatürlichen Schöpfung von Gegenständen. Die „wundersame Geldvermehrung“ gehört dazu. Bei der Aufhellung dieser Geheimnisse ist Goethe, trotz der Bezugnahme auf die Magie, um einiges klarer als viele heutige Ökonomieerklärer. Man studiere zum Vergleich lediglich Jochen Hörischs kürzlich erschienene Studie „Man muß dran glauben. Die Theologie der Märkte“. Der Germanist wirft mit Vokabeln wie „kryptoreligiöse Marktmystifizierung“, „Transsubstantiation“, „Ontotheologie“ und so fort um sich. Ist ein solcher Rekurs aussagekräftiger als der auf die „invisible hand“ (Adam Smith) oder jener, der magische Praktiken am Werk sieht?

Immerhin hat sich die verblüffende Aktualität Goethes bei Ökonomen schnell herumgesprochen. So hat der emeritierte Sankt Gallener Volkswirt Hans Christoph Binswanger, der bereits 1985 einen Großessay zum Thema „Geld und Magie“ veröffentlichte, diese Publikation in einer preiswerten Neuauflage 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, vorgelegt. Der Klassiker Goethe ist folgerichtig der modernste Analytiker des menschlichen Daseins.

Der erste Teil dieser JF-Serie von Felix Dirsch widmete sich Goethes Auseinandersetzung mit Globalisierung und Modernität (JF 2/14). Den dritten und letzten Teil der Serie lesen Sie in der JF-Ausgabe 4/14 am 17. Januar.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen