© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Volksabstimmungen
Gute Gründe dafür
Charles B. Blankart

Eigentlich sollten direkte Volksabstimmungen schon längst bundesdeutsche Realität darstellen. Denn Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes verlangt, daß der Wille der Bürger in Wahlen und ergänzend in Volksabstimmungen durchgesetzt wird. Dem Grundgesetz zufolge ist die Bundesrepublik Deutschland eine halbdirekte, repräsentative Demokratie. Doch nach 64 Jahren Grundgesetz hat der Bundesgesetzgeber noch immer keine Gesetzgebung über Abstimmungen auf Bundesebene erlassen.

Anfänglich wurde das mit den Gefahren des Kalten Krieges begründet. Doch 24 Jahre nach dem Mauerfall zieht diese Begründung nicht mehr. Vielmehr will das politische Establishment Volksabstimmungen verhindern.

Die Gegner von Volksabstimmungen haben sehr wirksam Verfassungsschranken eingezogen, durch die es unmöglich wird, allein aufgrund von Art. 20 Abs. 2 GG eine Abstimmungsbundesgesetzgebung zu erlassen. So sieht Art. 76 des GG bislang nicht vor, daß Gesetzesvorlagen beim Bundestag außer durch die Bundesregierung, den Bundestag und den Bundesrat, eben auch durch Volksinitiative eingebracht werden können. Daher müsse die „Volksinitiative“ – obwohl in Art. 20 Abs. 2 schon enthalten – explizit im Grundgesetz genannt werden. Diese Lehre ist sicherlich nicht unumstritten. Außerdem brauchen nicht alle Volksabstimmungen zu Gesetzen zu führen. Sollen Volksentscheide lediglich in Kontrollabstimmungen von im Bundestag beschlossenen Gesetzen, sogenannten „Referenden“ bestehen, so muß eine Gesetzesvorlage gar nicht eingebracht werden. Das Gesetz tritt einfach nicht in Kraft.

Wenn in Deutschland von direkter Demokratie auf Bundesebene die Rede ist, so wird darunter den aktuellen Vorschlägen zufolge der Dreischritt von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid genannt.

l Unter einer Volksinitiative wird ein Antrag aus dem Volk an das Parlament verstanden, ein konkret formuliertes Gesetz zu beschließen. Ziel ist es, einen parlamentarischen Diskurs in Gang zu setzen und so mehr Transparenz zu erreichen (400.000 Unterschriften).

l Scheitern die Initiatoren mit ihrem Gesetzesentwurf vor dem Parlament, so haben sie die Möglichkeit, mit zwei Millionen Unterschriften ein Volksbegehren einzureichen.

l Das Volksbegehren löst einen Volksentscheid nach dem Verfahren einer Wahl aus. Das Parlament kann einen Gegenentwurf vorlegen.

Bei Zustimmungspflicht der Länder gilt die Mehrheit der Stimmen im jeweiligen Land als Landesstimme. Gesetze gegen die Menschenrechte sind unzulässig. Finanzwirksame Gesetze sind zulässig, nicht aber solche gegen den Bundeshaushalt.

Volksabstimmungen verändern die Politik auf zwei Arten. Sie wirken direkt, wenn es zum Urnengang kommt, aber auch indirekt als Option, weil Politiker stets mit ihnen rechnen müssen. Politiker können nicht mehr ohne weiteres am Mehrheitswillen der Bürger vorbeiregieren.

Direkte Demokratie paßt zum deutschen proportionalen Wahlsystem, denn das Parlament kann als verkleinertes Abbild des Plenums einer großen Volksversammlung angesehen werden, wie sie aus praktischen Gründen nicht durchgeführt werden kann.

Das diskutierte dreistufige Verfahren von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid stellt eine sehr zurückhaltende Form der direkten Demokratie auf Bundesebene dar. Referenden (Volksveto) gegen vom Parlament beschlossene Gesetze sind nach diesem Vorschlag nicht vorgesehen. Daher hätten die Bürger zum Euro im Jahr 1992 nicht einfach nein sagen können. Sie hätten erst ein Gegengesetz als Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid einbringen müssen, durch welches das erste Gesetz außer Kraft gesetzt wird. Obwohl also die Durchschlagskraft des Tripels von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid wohl nur gering ist, haben die Gegner vorsorglich eine ganze Batterie von Gegenargumenten gegen diese Form der direkten Demokratie in Stellung gebracht, die dann je nach Bedarf abgefeuert wird. Es sind „Evergreens“, die an dieser Stelle einmal endgültig widerlegt werden sollen, damit sie nicht immer wieder auftauchen.

l Direkte Demokratie ist für die Wähler zu anspruchsvoll. Dieser Vorwurf ist verfehlt, weil die rein repräsentative Demokratie noch viel größere Anforderungen an die Wähler stellt. Sie müssen abschätzen, welche Koalition sich voraussichtlich bildet und wie sie daher am besten stimmen. Gelingt ihnen das nicht, so ist ihre Stimme wertlos.

l Volksabstimmungen sind schuld am Untergang der Weimarer Republik und am Aufstieg des Nationalsozialismus: Dieses Argument ist bei Hobbyhistorikern sehr beliebt. Aber die Weimarer Republik ist nicht an der direkten Demokratie gescheitert, sondern an der parlamentarischen Demokratie, als die Reichstagsmehrheit am 23. März 1933 Hitlers Ermächtigungsgesetz billigte.

l Direkte Demokratie ist undifferenziert, weil sie nur Ja-oder-Nein-Entscheide zuläßt. Diese Ansicht ist ebenfalls unrichtig, weil jede Vorlage im Parlament, im Fernsehen und in der Presse differenziert diskutiert wird, bevor sie den Wählern vorgelegt wird.

l Bei direkter Demokratie sind die Stimmbeteiligungen in der Regel nur niedrig und daher nicht repräsentativ. Auch das ist unzutreffend; denn auch im Privatleben äußert sich der einzelne nicht zu jeder Konsumoption. Schwerwiegender ist, daß die Wahlbeteiligung in Deutschlands parlamentarischer Demokratie (in der nur einmal alle vier Jahre gewählt wird) seit der Gründung der Bundesrepublik tendenziell zurückgeht.

l Direkte Demokratie ist von Interessengruppen abhängig. Das ist so ebenfalls unrichtig. In der direkten Demokratie spielen Interessengruppen eher eine kleinere Rolle als in der rein parlamentarischen Demokratie; denn wenn Stimmen wichtig sind, so kostet es die Interessengruppen in der Regel weniger Aufwand, die Mitglieder einer Regierungskoalition zu beeinflussen, als die Mehrheit der Wähler zu überzeugen.

l Finanzvorlagen eignen sich nicht für Volksabstimmungen. Das ist ebenfalls falsch. Empirische Studien belegen, daß Wähler sparsamer mit öffentlichen Mitteln umgehen als Parlamentarier. So ist die Pro-Kopf-Verschuldung in direkten Demokratien niedriger als in parlamentarischen Demokratien. Daher wäre es falsch, Finanzfragen von Volksabstimmungen auszunehmen. Im Gegenteil: In der Mittelverantwortung der Wähler zeigt sich die Stärke der direkten Demokratie.

l Direkte Demokratie ist rückständig: Hier ist je nach Beispiel zu differenzieren. Zwar wurde das Frauenstimmrecht in Deutschland schon 1919 eingeführt, in Frankreich aber erst 1945, in Belgien und Italien 1946, in Argentinien 1947, in Indien 1950, in der Schweiz 1971 und in Portugal 1976. Ein anderes Beispiel: Die Todesstrafe wurde in der Schweiz 1938 durch Volksabstimmung abgeschafft, in Westdeutschlands parlamentarischer Demokratie aber erst 1949, im Vereinigten Königreich 1973 und in Frankreich 1981.

l Direkte Demokratie polarisiert: Eher das Gegenteil ist richtig. In der rein parlamentarischen Demokratie setzt sich stets die Regierungskoalition durch. Die Opposition hat über die ganze Wahlperiode praktisch nichts zu sagen. Das begünstigt Polarität statt Kompromiß. Die Frustration der Opposition zeigt sich nicht selten in Streitgesprächen im Fernsehen – sicherlich kein Ersatz für demokratische Mitbestimmung. Volksabstimmungen zwingen dagegen, auch Meinungen außerhalb der Regierungskoalition zu berücksichtigen.

Direkte Demokratie paßt zum deutschen proportionalen Wahlsystem, denn das Parlament kann als verkleinertes Abbild des Plenums einer großen Volksversammlung aller Deutschen angesehen werden, wie sie aus praktischen Gründen nicht durchgeführt werden kann. Deswegen wird Deutschland auch als repräsentative Demokratie bezeichnet. Es mag sein, daß manche die Vorstellung des Parlaments als Abbild der Bürger ablehnen. Doch sie kommen mit dieser Ansicht in Schwierigkeiten, wenn sie erklären müssen, wen denn das Parlament überhaupt repräsentieren soll, wenn nicht die Bürgerinnen und Bürger. Im repräsentativen Parlament bilden sich durch Diskussion und Debatte die Präferenzen heraus, die die Bürger im Plenum nicht äußern können. Das mag im allgemeinen auch gut funktionieren; denn die Abgeordneten wollen schließlich wiedergewählt werden.

Ob Volksabstimmungen zu empfehlen sind oder nicht, hängt davon ab, welches Regierungssystem die Verfassung verlangt. Sie wären in unserem System sinnvoll, um die Übereinstimmung zwischen Bürgern und Parlament aufrechtzuerhalten.

Dann und wann mögen aber Parlamentsentscheidungen zustande kommen, die der Wählermehrheit des Plenums aller Deutschen widersprechen. Dann ist der Fall für ein Referendum gegeben, der es ermöglicht, das Parlament wieder auf die Wählerpräferenzen auszurichten.

Eine Volksinitiative erfüllt den gleichen Zweck für neue Gesetze und neue Verfassungsartikel. Diese beständige Kontrolle durch Bürger trägt dazu bei, die Tuchfühlung zwischen Bürgern und Parlament sicherzustellen und ein Abdriften und eine Entfremdung vom Bürgerwillen zu verhindern.

Die Repräsentativfunktion des Parlaments würde behindert, wenn – wie manche vorschlagen – das deutsche Wahlsystem durch das angelsächsische Mehrheitswahlystem (ganz oder teilweise) ersetzt würde. Das Mehrheitswahlsystem ist typisch für die „alten Demokratien“ aus Zeiten, in denen das proportionale Wahlsystem noch nicht erfunden war. Es hat den großen Nachteil, daß hinter der Regierung meist nur eine Minderheit der Wähler steht (so zum Beispiel beim britischen Westminster-System).

In einem Mehrheitswahlsystem werden nicht primär Repräsentanten, sondern ein Regierungsprogramm gewählt, das von der Mehrheit des Parlaments getragen wird. In Vorwahlen werden die verschiedenen Programmvorschläge solange selektioniert, bis nur noch zwei Programme übrigbleiben, zwischen denen dann die Wähler am Wahltag entscheiden. Der Parteiführer des gewählten Programms ist dann verantwortlich für das, was er versprochen hat. Dazwischen gestreute Volksabstimmungen würden den Parteiführer von der Verantwortung für sein Programm entbinden. Er könnte sein Versagen stets mit einem Volksvotum entschuldigen. Das wäre problematisch. Daher ist unter einem Mehrheitswahlsystem von Volksabstimmungen eher abzusehen.

Fazit: Ob Volksabstimmungen zu empfehlen sind oder nicht, hängt also nicht davon ab, ob Bürgerentscheide gut oder schlecht sind, sondern es hängt davon ab, welches Regierungssystem die Verfassung verlangt. Sieht die Verfassung (wie in Deutschland) ein repräsentatives Parlament vor, so werden die Präfenzen in diesem stellvertretend für die des Plenums gebildet.

Volksabstimmungen sind sinnvoll, um die Übereinstimmung zwischen Bürgern und Parlament aufrechtzuerhalten. In einem reinen Zweiparteiensystem mit Mehrheitswahl mag man von Volksabstimmungen absehen, um so klare Verantwortlichkeiten zum Regierungsprogramm zu gewährleisten. Über diese beiden Alternativen wäre im Falle eines neuen Grundgesetzes zu entscheiden.

 

Prof. em. Dr. Charles B. Blankart, Jahrgang 1942, ist ein Schweizer Volkswirtschafter. Gegenwärtig lehrt er an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland und forscht am Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Blankart ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

Foto: Mehr Mitsprache durch Referenden: Die beständige Kontrolle durch Bürger trägt dazu bei, ein Abdriften und eine Entfremdung des Parlaments vom Bürgerwillen zu verhindern

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