© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

„Eiskalte Erpresser“
Molotows Forderungen vom November 1940 und die Folgen
Klaus Hornung

Am 12. November 1940 traf der sowjetische Außenminister und Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Wjatscheslaw Molotow, nach zweitägiger Bahnfahrt zu Gesprächen mit Hitler in Berlin ein. Es war das erste Treffen der deutschen und sowjetischen Führungsspitze seit den zwei Besuchen des deutschen Außenministers Joachim von Ribbentrop in Moskau im Sommer 1939.

Am 23. August 1939 hatten Stalin und Hitler mit den Unterschriften Molotows und Ribbentrops ihren die Weltöffentlichkeit schockierenden Nichtangriffspakt geschlossen, freilich mit völlig entgegengesetzten Motiven. Hitler ging es darum, bei einem Angriff auf Polen die Westmächte davon abzuhalten, gegen das Reich in den Krieg einzutreten. Stalin plante, Hitler grünes Licht zum Angriff auf Polen zu geben in der sicheren Erwartung, daß England und Frankreich dann dem Reich den Krieg erklären würden. Für Stalin bedeutete dies die Auslösung des von ihm seit langem erhofften zweiten Krieges der „imperialistischen Mächte“, für die Hitler die Rolles des Türöffners, des „Eisbrechers“ (Viktor Suworow) übernehmen sollte.

Nach dem Muster des Ersten Weltkrieges sollten die „imperialistischen Mächte“ sich erneut derart schwächen, daß die Sowjetunion zu einem späteren Zeitpunkt als „lachender Dritter“ in ihn eingreifen und die kommunistische Weltrevolution durchsetzen konnte. Was Lenin nach 1918 nicht gelungen war, sollte jetzt beim zweiten Anlauf gelingen. Nach dem Vertragsabschluß äußerte Stalin sich im engsten Kreis (nach dem Zeugnis Chruschtschows) voller Befriedigung, es sei ihm gelungen, „Hitler zu überlisten“.

Inzwischen war die erste Phase des Krieges in Europa abgerollt und die Wehrmacht hatte Frankreich besiegt. Es ging jetzt um das weitere Verhältnis der beiden totalitären Diktaturen. Molotow kam nach Berlin mit dem Konzept seines Meisters Stalin im Kopf. Er hörte kaum hin, als Hitler und Ribbentrop ihm den Gegenplan vorlegten, die Sowjetunion solle dem Dreimächtepakt beitreten und im Bündnis mit Deutschland ihre Expansion nach Süden, zum Persischen Golf und gegen Britisch-Indien richten.

Stattdessen ließ der Moskauer Abgesandte keinen Zweifel, daß es ihm um eine Neuregelung der beiderseitigen Interessensphären in Europa auf deutsche Kosten ging: in Südosteuropa (Rumänien, Bulgarien) ebenso wie in Nordeuropa (Finnland, Schweden und die dänischen Ostseeausgänge Belt, Kattegatt). Den Trumpf bildete die Forderung, sowjetische Militärstützpunkte an den türkischen Meerengen zu errichten. Das sowjetische Forderungspaket machte deutlich, daß es hier um das Programm einer militärstrategischen Einschnürung ging.

Hitler erkannte, daß die Sowjets „die Katze aus dem Sack ließen“, daß er sich in den Händen „eiskalter Erpresser“ befand. Molotow hatte den Preis des Paktes vom 23. August 1939 genannt. Drohend stand wieder die tödliche Gefahr des Zweifrontenkrieges für Deutschland am Horizont. Hitler meinte, keinen anderen Ausweg als die militärische Lösung zu finden. Vier Wochen nach dem Molotow-Besuch erließ er die „Weisung Nr. 21“ vom 18. Dezember 1940 („Fall Barbarossa“), wonach die Wehrmacht sich darauf vorbereiten sollte, „auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen“. Hitler meinte, dem Zweifrontenkrieg durch einen erneuten Blitzkrieg nach dem Muster des Frankreichfeldzugs von 1940 entgehen zu können. Nach Stalins rabiaten Säuberungen der Führungsspitzen 1936/37 meinte Hitler zudem, die Sowjetarmee als „hohlen Riesen“ abtun zu können.

Auch Stalins Kalkül ging letztlich nicht ganz auf

Die deutsch-sowjetischen Gespräche in Berlin im November 1940 wurden zum Vorspiel des militärischen Zusammenstoßes der beiden totalitären Parteidiktaturen am 22. Juni 1941, durch den der bisherige Krieg in Europa eskalierte. Dieser Tag, der den Beginn eines brutalen und rücksichtslosen Weltanschauungskrieges markierte, wurde vor allem für die Deutschen und die Russen zum Schicksalsdatum. Ein Großteil der Sowjetunion wurde durch den Krieg verheert, keine dreieinhalb Jahre später versank auch Deutschland in der Katastrophe. Aber auch Stalins ideologisch- strategischer Fahrplan, in den Krieg als „lachender Dritter“ einzutreten, wenn die anderen sich zuvor genügend geschwächt hatten, und so die kommunistische „Weltrevolution“ durchsetzen zu können, scheiterte eklatant.

Stalin konnte immerhin den historischen Vorteil nutzen, die Vereinigten Staaten mit ihren überlegenen Ressourcen als Bundesgenossen zu gewinnen, ohne deren nachhaltige Unterstützung der Sowjetarmee kaum gelungen wäre, bei Kriegsende in Berlin und an der Elbe zu stehen. Dieser Krieg hinterließ zwischen dem Rhein und bis weit nach Rußland hinein tiefe Spuren der Zerstörung. Auch nach dem Krieg ließen Stalin und seine Nachfolger nicht von ihrem Ziel ab, doch noch die Hegemonie über Eu-ropa bis zum Atlantik zu gewinnen, ein Versuch, der weitere vier Jahrzehnte des Kalten Krieges zwischen Ost und West andauerte, bis die Sowjetunion 1989 an ihm selbst zerbrach.

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