© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Reichlich Stoff für Spekulationen
NSU: Erstmals äußert sich in dieser Woche der Kollege der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter öffentlich zu der Tat
Marcus Schmidt

Martin A. hat überlebt. Doch seit dem Mordanschlag auf seine Kollegin Michèle Kiesewetter und ihn am 25. April 2007 in Heilbronn leidet der 31 Jahre alte Polizeibeamte an den Folgen. Aus nächster Nähe hatten die Täter den beiden jungen Polizisten gegen 14 Uhr in den Kopf geschossen, als diese in ihrem Streifenwagen auf einem Parkplatz an der Theresienwiese gerade eine Pause machten.

Während Kiesewetter sofort tot war, überlebte A. schwer verletzt. Aufgrund eines massiven Schädelhirntraumas plagen ihn seitdem Erinnerungslücken. Dennoch wird die für diesen Donnerstag angesetzte Zeugenvernehmung von A. vor dem Münchner Oberlandesgericht mit Spannung erwartet. Denn der Überfall auf die Polizeistreife in Heilbronn, zu dem sich A. bislang noch nicht öffentlich geäußert hat, ist nach wie vor der rätselhafteste Fall, der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zugeschrieben wird. Der Tathergang weist Besonderheiten auf, die für vielfache Spekulationen sorgen.

So verwendeten die Täter nicht die berüchtigte Pistole der Marke Ceska, mit der mutmaßlich vom NSU neun türkisch- und griechischstämmige Gewerbetreibende ermordet wurden, sondern zwei andere Waffen. Da es sich bei den beiden Polizisten um Deutsche handelte, stellt sich zudem verschärft die Frage nach dem Motiv der mutmaßlich rechtsextremistischen Täter. Ausländerfeindlichkeit jedenfalls scheidet hier aus. War es also Haß auf die Polizei – oder Rache?

Die Ermittler sind dieser Frage intensiv nachgegangen: In zwei 2007 und 2009 erstellten Fallanalysen werden persönliche Rachemotive „eher ausgeschlossen“. Auch eine gemeinsame persönliche Vorgeschichte zwischen Tätern und zumindest einem der Opfer wurde als „eher unwahrscheinlich“ eingeschätzt. Stattdessen heißt es in der ersten Analyse zum möglichen Motiv: „Realisierung eigener Überlegenheitsbedürfnisse/Wiedergutmachung erfahrener Unterlegenheit gegenüber der Polizei/Machtdemonstration“.

Mit dem Wissen von heute und dem Blick auf Mundlos und Böhnhardt als mögliche Täter ist eine Einschätzung aus der zweiten Fallanalyse interessant: „Ein politisch motivierter Anschlag gegen ‘Staatsorgane‘ ist eher auszuschließen. Es fehlt an einem Bekennerschreiben, und die Tat weist insgesamt zu viele Elemente einer allgemeinkriminellen Tat auf“, urteilte das LKA Baden-Württemberg 2009. Eine Einschätzung, die im deutlichen Widerspruch zur Rekonstruktion der Tat in der Anklageschrift gegen Zschäpe steht.

Eltern zweifeln am Selbstmord eines Zeugen

Dort macht die Bundesanwaltschaft Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt für die Tat verantwortlich. Als Beleg dienen ihr die beiden Tatwaffen, die Dienstwaffen der beiden Polizisten sowie weitere Ausrüstungsgegenstände, die in der Unterkunft des Trios in Zwickau beziehungsweise im Wohnmobil in Eisenach, in dem Böhnhardt und Mundlos starben, gefunden wurden. Außerdem fanden die Ermittler in der Zwickauer Wohnung eine Jogginghose mit Blutresten Kiesewetters.

Die Anklageschrift geht zudem davon aus, daß Kiesewetter und A. Zufallsopfer waren. Trotz umfangreicher Ermittlungen hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß sich Täter und Opfer zuvor schon einmal begegnet sind. Dies war immer wieder vermutet worden, weil Kiesewetter wie die mutmaßlichen Täter ebenfalls aus Thüringen stammte. Die Polizistin, so die Vermutung, kannte Mundlos und Böhnhardt von früher und wurde von ihnen daher vorsorglich ausgeschaltet. Den Ermittlern zufolge liefen diese Spuren aber alle ins Leere.

Die Behörden gehen jetzt davon aus, daß die Polizisten sterben sollten, weil sie dem Trio als Vertreter des von ihnen gehaßten und verachteten Staaates galten. Diesem sollte mit der „Hinrichtung“ seine Ohnmacht vorgeführt werden.

Was auch immer die Motive waren: Mit dem am hellichten Tag in aller Öffentlichkeit begangenen Attentat gingen die Täter ein erhebliches Risiko ein, entdeckt zu werden. Es gibt denn auch mehrere Zeugenaussagen. Diese lassen sich indes nur teilweise in den von der Anklage rekonstruierten Tathergang integrieren. Zwar hat sich bislang niemand gemeldet, der die Tat gesehen hat, aber mehrere Personen gaben an, in Tatortnähe blutverschmierte Personen gesehen zu haben. Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft kann es sich dabei aber aus zeitlichen Gründen nicht um Böhnhardt und Mundlos gehandelt haben. Denn zwischen 14.30 und 14.37 Uhr notierten am Tattag zwei Polizisten im 21 Kilometer von der Theresienwiese entfernten Oberstenfeld die Nummer eines Wohnmobils aus Chemnitz. Dieses wurde laut Bundesanwaltschaft von Böhnhardt unter dem Namen Holger G. angemietet. Da die Ermittler zwischen 24 und 31 Minuten für die Strecke veranschlagen und die Zeugen ihre Beobachtungen deutlich nach 14 Uhr gemacht hatten, paßten diese zeitlich nicht ins Bild.

Wenn man annimmt, daß Mundlos und Böhnhardt entweder nicht an der Tat beteiligt waren, oder diese nicht alleine verübt haben, läßt sich dieser Widerspruch auflösen. Dafür, daß die Tat von mehr als zwei Personen begangen wurde, gibt es laut Behörden jedoch keine Hinweise. Auffällig bleibt dennoch diese ungewöhnliche Häufung von blutverschmierten Passanten, von denen nach Zeugenaussagen zwei italienisch, andere wiederum russisch sprachen.

Auch vor diesem Hintergrund kommt den von den Tätern entwendeten Waffen der Polizisten sowie weiteren Ausrüstungsgegenständen besondere Bedeutung zu. Erst nachdem diese im Eisenacher Wohnmobil beziehungsweise in der Zwickauer Frühlingsstraße gefunden wurden, konnte ein Zusammenhang mit dem NSU hergestellt werden. Daß die Täter die Gegenstände an sich genommen haben, ist bemerkenswert. Wenn Mundlos und Böhnhardt tatsächlich für das Attentat verantwortlich waren, stellt sich die Frage, warum sie im Gegensatz zu allen anderen Morden „Trophäen“ mitgenommen haben. Wenn andere Täter für den Mord an Kiesewetter verantwortlich sind, muß angenommen werden, daß die Gegenstände bewußt mitgenommen wurden, um sie sieben Jahre später dem Trio „unterzuschieben“. Auch dies wäre ein bemerkenswerter Vorgang.

Daß der Fall auch bald sieben Jahre nach der Tat immer noch für Überraschungen gut ist, zeigt der Tod eines jungen Mannes im vergangenen Jahr. Der 21 Jahre alte Florian H. verbrannte im September 2013 in seinem Auto. Während die Polizei von Selbstmord ausgeht, zweifeln seine Eltern an dieser Version. Sie verweisen darauf, daß H. vorgab, Informationen über den Polizistenmord zu haben. Am Tag seines Todes sollte er deshalb zum zweiten Mal beim LKA aussagen. Die Ermittler erwarteten indes von dem zur Tatzeit 15 Jahre alten H. keine entscheidenden neuen Erkenntnisse.

Schon jetzt scheint klar, daß A. mit seiner Zeugenaussage kaum mehr Klarheit in den verworrenen Fall bringen wird. Selbst wenn am Ende das Gericht von der Rekonstruktion des Tathergangs durch die Bundesanwaltschaft überzeugt sein sollte: Der Polizistenmord von Heilbronn wird auf unabsehbare Zeit reichlich Stoff für Spekulationen bieten.

Foto: Gedenkstätte in Heilbronn für die ermordete Polizistin Kiesewetter: Blutverschmierte Zeugen

 

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