© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Die Bosheit ist rein menschlich
Zweiter Weltkrieg: Der Dokumentarfilm „Das radikal Böse“ über Massenerschießungen von Juden in der Westukraine regt zum Nachdenken an
Sebastian Hennig

Die Idee des Films ist verblüffend einleuchtend und sollte eigentlich den selbstdenkenden Zuschauer zu weit umfassenderen Einsichten verführen, als der brutal einfache Titel zunächst nahelegt. „Das radikal Böse“ ist nämlich eine visuelle Spekulation über die Massenerschießungen von Juden durch das Reserve-Polizei-Bataillon 101 in der Westukraine. Überwiegend junge männliche Komparsen markieren darin die harmlosen Verrichtungen eines gewöhnlichen Soldatenalltags, dazu sind aus dem Off Schauspieler zu vernehmen, welche Auszüge aus Feldpostbriefen lesen.

Die Kinoleinwand teilt sich zum Triptychon. Drei Uniformierte in verschiedenen Handlungen werden nebeneinander sichtbar. Es ist die Rede von dem Triumphgefühl der ersten Kriegsphase. Die jungen Soldaten fühlten sich als Vertreter eines „Volks der Zukunft“. Seine manipulative Note erhält das Werk durch nachgestellte Szenen sozialpsychologischer Experimente und die Befragung von Psychologen, Historikern und Zeitzeugen.

Der Psychiater Robert Jay Lifton berichtet davon, wie ihm Kollegen abrieten, die psychologischen Motive dieses Tötens zu erforschen, weil sie eine Relativierung der Verantwortung befürchteten. Lifton bezeichnet das Böse als genuin menschlich. Dem entspricht schon E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Ignaz Denner“.

Diese Perspektive ist sogar hoffnungsvoller als die Ausweglosigkeit als geschlossenes Weltbild, wie sie uns Franz Kafkas Erzählungen nahelegen. Das Leben bedeutet nichts weniger als ein Scheideweg zwischen Bestialität und Erleuchtung. Das mag man schrecklich finden. Es ist aber vorübergehend. Weit schrecklicher ist die Vernunft der reinen Menschlichkeit, von der Goethes Mephistopheles wußte: „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein.“

Die Ausführungen des US-amerikanischen Militärpsychologen und Autors Dave Grossman lassen erahnen, wie fieberhaft in den letzten Jahrzehnten nach den besagten Erschießungen von Fachleuten an Stategien zur weiteren Herabsetzung der Hemmschwelle für Tötungen gefeilt wurde. Wer hier genau hinhört, dem versagt sich die retrospektive Genugtuung des Nachgeborenen.

Umstrittenes Foto frevelt am Anspruch des Films

Ästhetisch ist dieser Film ebenso unwiderlegbar wie Claude Lanzmanns „Shoah“. Wenn gegen Ende für eine halbe Sekunde dann doch wieder jenes umstrittene Foto von den mutmaßlichen Erschießungsaktionen in Ivangorod aufblitzt, das den deutschen Soldaten mit Karabiner in Anschlag hinter der Frau mit dem Kind zeigt, frevelt der Film am eigenen Anspruch. Es ist ein bißchen so wie in „Fight Club“, wenn Tyler Durden die Kinder im Kinosaal zum Heulen bringt, indem er kaum wahrnehmbare Schnipsel pornographischer Szenen in den Film hineinschneidet. Möglicherweise haben die Produzenten Regisseur Stefan Ruzowitzky fehlberaten, in der Hoffnung, daß ein vereindeutigter Film eher als pädagogisch wertvoll für die politische Bildung herangezogen wird.

Der US-Historiker Timothy Snyder hat in seinem Buch „Bloodlands“ das Europa zwischen Hitler und Stalin zu charakterisieren versucht (JF 51/11). Ähnlich hat der tschechische Autor Jachym Topol in seinem Roman „Die Teufelsmaschine“ einen Gestaltungsversuch unternommen, den man kaum belletristrisch nennen mag. Wenn der Film vieles offenläßt, so braucht doch nicht mehr eigens in Carl Schmitts Sinn unterschieden zu werden zwischen Verbrechen gegen und Verbrechen für die Menschlichkeit. Diesen Unterschied hat eine Mehrheit des Kinopublikums längst verinnerlicht.

In unseren östlichen Nachbarländern ist das noch anders. In seiner Rede zum Jahrestag des Angriffs auf die Westerplatte im September 2009 hat der russische Präsident Putin gefordert, die Beschäftigung mit der europäischen Geschichte endlich zu entpolitisieren, sonst „handeln wir wie ein Arzt, der seine Patienten absichtlich mit Krankheiten infiziert, um sie dann für Geld wieder zu heilen“. Putin forderte eine gerechte Verteilung der furchtbaren Erblast dieses Krieges: „Wenn jemand mit Vorsatz aus diesem alten muffigen Brötchen nur die Rosinen für sich herausholt und den restlichen trockenen Batzen nur der einen Seite dieser Geschichte überläßt, dann wird daraus nichts Gutes.“

In diesem Zusammenhang ist es eben auch wichtig, daß in Deutschland endlich eine unaufgeregte, warum nicht auch emotionslose Betrachtung der Tatsachen erfolgt. Es bleibt zu hoffen, daß die unter dem Vorwand der Bildung betriebene antideutsche Gehirnwäsche nicht schon so weit das Bewußtsein der Allgemeinheit bestimmt, daß die offenen Gesichter dieser Filmsoldaten als monströse Mördervisagen umgedeutet werden. Das wäre ein anderer subtiler Wirkmechanismus des radikalen Bösen und würde dem perennierenden Schrecken des Geschehens nicht gerecht.

Im Film wird die Dehumanisierung des Opfers als Voraussetzung seiner unbedenklichen Tötung erwähnt. Wer wird da nicht nachdenklich, wenn er auf einer zu Hunderttausenden an den Schulen verteilten Zeitung eines antifaschistischen Bündnisses die Absichtserklärung progressiver Unterhaltungskünstler liest, „diesen Zellhaufen das Leben schwer zu machen. Wenn es wirklich nicht anders geht auch friedlich.“

www.das-radikal-boese.de

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