© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Zerrbild von Lobby-Organisationen
Giftstoffe: Ein Handbuch zu Risiken und Nebenwirkungen des modernen Alltags
Dirk Glaser

Panikmache? Ein roter Apfel, in den ein Totenkopf und gekreuzte Knochen eingezeichnet sind. So ist das Buch „Unser täglich Gift“ illustriert. Doch der erste Eindruck täuscht. Nicht Panikmache, sondern eine wissenschaftlich abgeklärte Darstellung über „tatsächliche und vermeintliche Schadstoffe“ im Alltag der Industriegesellschaft erwartet den Leser. Kaum jemand könnte sie zuverlässiger liefern als Hermann Josef Roth, bis 1994 Ordinarius für Pharmazeutisch-Medizinische Chemie und Direktor des Pharmazeutischen Instituts der Universität Tübingen.

Anders als es der Buchumschlag suggeriert, steht die Nahrungsmittelchemie in seinem kleinen Kompendium dabei nicht im Mittelpunkt, obwohl die Kapitel über Genußgifte, Zusatzstoffe in Lebensmitteln, die Bedrohungen durch verstecktes Fett und Zucker sowie das Basiswissen über Nahrungsergänzungsmittel ein knappes Drittel des Werkes beanspruchen. Roth wirft auch einen Blick auf die Palette der Umweltgifte, auf Pestizide und Insektizide, Luft- und Wasserkontamination sowie auf Rauschgifte, Doping und Arzneimittelmißbrauch. Sein Lieblingsthema ist jedoch der Antibiotika-Einsatz in der Tiermast.

Auch Kosmetika und Anti-Aging vergißt der Pharmazeut nicht. Hier fällt das Urteil vergleichsweise deutlich aus. Weder das Nervengift Botox als „Faltenkiller“ noch die in Deutschland nicht zugelassene „Barbie-Droge“ Melanotan, ein Hormon, das Bräunungseffekte hervorrufen, die Libido steigern und den Appetit zügeln soll, findet die Gnade des Experten. Roths „rote Liste“ der uns bedrohenden Gefahren scheint endlos, erfaßt die Bleikonzentration in Lippenstiften, den ungesund hohen Koffeingehalt von „Energy Drinks“, die legal „gepanschten“ Weine aus den USA ebenso wie die Kunststoffe, die zur inneren Beschichtung von Konservendosen verwendet werden und die oft in Kontakt mit den eingefüllten Lebensmitteln kommen.

Trotzdem stimmt die Botschaft des Buches mit dem Mantra des Bundesinstituts für Risikobewertung überein, dem zufolge die deutsche Nahrungsproduktion noch nie so lückenlos überwacht worden sei wie heute. Ungeachtet zahlloser Skandale und des auch in Zukunft in allen Branchen unvermeidlichen Treibens „schwarzer Schafe“ würden nirgendwo sonst als hierzulande Betriebe genauer kontrolliert, die Produktion optimiert sowie die Hygiene stetig verbessert. Lebensmittelkonzerne, die systematisch Profite auf Kosten der Gesundheit ihrer Kunden anstrebten, seien daher ein Zerrbild von Lobbyorganisationen.

Für das Restrisiko menschlicher Existenz verweist Roth auf Erich Kästners Rat: „Seien wir ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich“.

Hermann Josef Roth: Unser täglich Gift. Tatsächliche und vermeintliche Schadstoffe im Alltag. Hirzel, Stuttgart, 2013, gebunden, 255 Seiten, 29,80 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen