© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Vergebliches Warten auf Kommissar Zufall
NSU-Prozeß: Dem 2007 in Heilbronn schwer verletzten Polizisten Martin A. fehlen die entscheidenden zehn Minuten
Hinrich Rohbohm

Seine Schilderungen sind sachlich und logisch strukturiert. Allein das grenzt schon an ein Wunder. Martin A. ist der einzige Überlebende jener Serie von Mordanschlägen, die dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zur Last gelegt wird. Am 25. April 2007 hatte der Polizeibeamte auf der Heilbronner Theresienwiese einen Kopfschuß erlitten. Zwei Täter sollen sich dem Einsatzwagen von A. und dessen Kollegin Michèle Kieswetter von hinten genähert haben. Laut Staatsanwaltschaft handelte es sich dabei um Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die ihren Opfern anschließend in den Kopf schossen. Martin A. überlebte trotz schwerster Verletzungen (JF 4/14).

Vor dem Staatsschutzsenat des Münchner Oberlandesgerichts machte er vergangene Woche nun erstmals eine öffentliche Aussage. Der 31jährige kann sich an Details genau erinnern. Wie er von seiner Kollegin Michèle Kiesewetter angesprochen wurde, ob er für einen Einsatz an Brennpunkten in der Drogenszene von Heilbronn zur Verfügung stehe. Wie sie mit den Einsatzwagen losfuhren. Wie sie in Heilbronn einen Drogensüchtigen ansprachen, der am Friedhof auf einer Bank saß.

Er erinnert sich auch noch daran, wie sie Brötchen kauften, gemeinsam eine Zigarette rauchten und später zur Theresienwiese fuhren, um dort im Schatten eines Trafo-Hauses eine Pause einzulegen. „Tja, und da hört’s dann auch schon auf“, erzählt er dem Gericht. Filmriß. Was dann geschah, habe er erst später aus Polizei- und Presseberichten erfahren. Daß seine Kollegin Michèle Kiesewetter erschossen wurde. Daß sein Leben trotz Kopfschuß gerettet werden konnte.

Zwei Teile des Projektils wurden aus seinem Kopf operiert. Der dritte Teil steckt noch heute in seinem Schädel. Die Ärzte würden sich da nicht rantrauen. „Ich habe Narben ohne Ende, mein Kopf sieht aus wie eine Landkarte“, erzählt A. Man hatte ihm die Schädeldecke abgenommen, seinen Oberschenkel aufgeschnitten, um Sehnenmaterial zu entnehmen, das die Ärzte für den Kopf benötigten.

Nie Kontakt zur rechten Szene gehabt

Nach der Tat liegt A. viereinhalb Wochen im Koma. Als er wieder zu sich kommt, ist er an Schläuchen angeschlossen. Sein erster Gedanke: die Kollegen hätten sich einen Scherz mit ihm erlaubt. Seine Angehörigen dürfen ihm nicht sagen, wie es zu dieser Situation gekommen ist, meinen ihm gegenüber er habe einen Motorrad-Unfall gehabt. A. wird von der Außenwelt abgeschirmt. Keine Informationen aus der Presse dringen zu ihm durch. Zwei Wochen lang darf er nicht in den Spiegel sehen.

Seine Oberschenkel seien damals so dünn gewesen, daß er sie mit der Hand umfassen konnte, sagt er. Die rechte Körperhälfte habe sich taub angefühlt. „Das war so, als ob mir Arme und Beine angenäht wurden“, schildert A. dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl.

Später haben ihn dann die Kollegen besucht, ihn über den Kopfschuß aufgeklärt. A. fragte nach dem Befinden Kiesewetters. „Nee, die ist nicht mehr“, erzählt ihm einer der Beamten vom Tod der Kollegin. Polizist zu sein, das war für Martin A. ein Kindheitstraum. „Aber da sind jetzt diese Bilder im Kopf“, sagt er. Eine große Unzufriedenheit erfülle ihn. „Das Motiv fehlt“, nennt er den Grund dafür. A. kann sich bis heute nicht erklären, warum auf ihn und seine Kollegin geschossen wurde. Mit der rechten Szene war er nie in Kontakt geraten, war nie auf rechtsextremen Demonstrationen zum Dienst eingeteilt und hatte auch sonst keine Veranstaltungen der Szene besucht.

Anders verhält es sich bei der Ermordeten. Michèle Kiesewetter ist gebürtige Thüringerin und kam auch bei rechtsextremen Demonstrationen sowie 2006 beim NPD-Parteitag zum Einsatz. Derzeit ermittelt das Landeskriminalamt Baden-Württemberg in einer Sonderkommission mögliche Zusammenhänge.

Bisher stellt der laut Anklage dem NSU zugeschriebene Polizistenmord von Heilbronn die rätselhafteste Tat dar. Sie paßt nicht in das Muster der anderen Morde. Die Opfer sind Deutsche, keine Ausländer. Als Tatwaffe wurde nicht wie sonst die Ceska benutzt.

Martin A. hat versucht, seine Amnesie zu überwinden, hat sich sogar hypnotisieren lassen, um Erinnerungen an die Tat zu erhalten. Vergeblich. „Die entscheidenden zehn Minuten sind schwarz, die kann keiner zurückholen“, sagt er aus. Er habe gehofft, daß Kommissar Zufall etwas herausfinden würde. „Aber auch Kommissar Zufall konnte den Fall nicht aufklären.“

Linke Aktivisten werben um Kegelvereine

Auf einen Zufall hofft man auch beim „Bündnis gegen Naziterror und Rassismus“. Der aus zahlreichen linksextremistischen Gruppen bestehende Zusammenschluß hatte ebenfalls in der vergangenen Woche gemeinsam mit dem der Rosa-Luxemburg-Stiftung nahestehenden Kurt-Eisner-Verein zu einer Podiumsdiskussion ins Münchner DGB-Haus geladen. Als Referenten traten dort neben Sebastian Schneider vom antifa-gesteuerten Netzwerk NSU-Watch die Soziologie-Professorin Juliane Karakayali von der Evangelischen Hochschule Berlin sowie der für die taz schreibende Antifa-Autor Andreas Speit auf.

Das Interesse am NSU-Prozeß ist groß in der linken Szene. Gut 200 Zuhörer sind zur Veranstaltung gekommen. Zuviel für die vorgesehene Saalgröße. Trennwände werden geöffnet, mehr rot gepolsterte Stühle hereingetragen. Ein Mann um die Fünfzig verteilt Flugblätter für eine Veranstaltung der trotzkistischen Organisationen Internationale sozialistische Linke und Revolutionär Sozialistischenr Bund.

„Wir machen noch zuwenig Druck“, beklagt Karakayali, die darauf hofft, daß noch per Zufall irgend etwas Neues in dem Fall an die Öffentlichkeit komme, damit das Interesse am NSU weiter wächst. Der Kegelverein Jena müsse beispielsweise nach München fahren und dagegen protestieren, daß der Name ihrer Stadt mit den NSU-Morden in Verbindung gebracht werde, schwebt ihr vor. Leute aus anderen Städten müßten zum Prozeß geholt werden, um bei Protesten zahlenmäßig stärker auftreten zu können, fordert sie schließlich.

Auch Sebastian Schneider wünscht sich, daß endlich mehr Druck auf die staatlichen Institutionen ausgeübt wird. Vor allem der Verfassungsschutz müsse in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, am besten sogar ganz abgeschafft werden, lautet seine Forderung. Ein Vorschlag, den auch Andreas Speit unterstützt. Auf die Frage, ob noch eine „Smoking Gun“ während des NSU-Prozesses zu erwarten sei, antwortet er, daß die bereits „auf dem Tisch“ liege. „Die Smoking Gun ist die bürgerliche Gesellschaft“, meint der Journalist.

 

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