© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Wurzeln, Reichtum und fehlende Ideen
Debatte: Will Deutschland die EU dominieren oder den Herausforderungen als europäischer Zentralmacht entgehen? Welche Rolle spielt die mediterrane Welt? / Zwei Philosophen über „Das Lateinische Reich“
Thorsten Hinz

Die Deutschen fühlen sich ungerecht behandelt. Sie haben es erduldet, daß ihre politische, nun ja, Elite die harte DM-Mark mit den südeuropäischen Weichwährungen vermischt, und was ist der Dank? Vom Mittelmeer erreicht sie der Vorwurf, ihr währungspolitisches Harakiri folge in Wahrheit dem perfiden Plan, ein deutsches Europa zu errichten. Wie gemein! Diese deutsche Sicht ist zwar verständlich, doch bestenfalls ist sie einseitig. Was ist dann die Kehrseite?

Im Frühjahr 2013 erregte ein Aufsatz des italienischen Philosophen und Essayisten Giorgio Agamben beträchtliches Aufsehen. Er war in der linksliberalen französischen Zeitung Libération unter dem reißerischen, von der Redaktion verantworteten Titel „Que l’Empire latin contre-attaque!“ (etwa: Das Lateinische Reich schlägt zurück!) erschienen. In Deutschland konnte mit dem Text niemand etwas anfangen. Wo Agamben die Frage nach der geistigen Dignität und kulturellen Legitimität der EU aufwarf, erblickte man hier nur antideutsche Polemik, reaktionäre Kulturkritik oder Europafeindlichkeit.

Agamben hatte sich auf einen Aufsatz des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève (1902–1968) bezogen, der im August 1945 eine künftige „Doktrin der französischen Politik“ formuliert hatte. In seiner an Charles de Gaulle, zu der Zeit Chef der Provisorischen Regierung der Französischen Republik, gerichteten Analyse vereinte Kojèves Leidenschaft mit kühler Präzision: Mit der Niederlage Deutschlands, des stärksten europäischen Landes, gehöre die alte Gestaltungsmacht der Nationalstaaten der Vergangenheit an. Wer auf Gedeih und Verderb an ihr festhalte, verliere sie um so sicherer. Denn die wirkliche Macht liege jetzt bei den Imperien, beim russischen und beim angelsächsischen, den Siegern des Zweitens Weltkriegs. Deutschland indes werde in kurzer Zeit wieder zur ökonomisch stärksten Macht des Kontinents aufsteigen und stehe vor der Alternative, sich entweder dem russischen oder dem angelsächsischen Imperium anzuschließen. Gewiß werde es die Westoption wählen. Das dann entstehende angelsächsisch-germanische Imperium werde auch Frankreich beherrschen.

Das Lateinische Reich als Schutzhülle

Für eine Schaukelpolitik oder für Großmachtallüren, wie sie Polen in der Zwischenkriegszeit an den Tag gelegt hatte, sei Frankreich zu klug. Um seine Eigenständigkeit zu erhalten, müsse es, so Kojève, sich selber zum Zentrum eines Imperiums machen, das er das „Lateinische Reich“ nannte. Ihm sollten weiterhin die katholischen Mittelmeeranrainer Italien und Spanien angehören, mit denen Frankreich historisch, kulturell und lebensweltlich eng verbunden war. Das Lateinische Reich war nicht als Negation, sondern als Rettung der französischen Nation gedacht: „Die lateinische Idee ist nur eine Konkretisierung des französischen Willens zu politischer Autonomie und zu ‘Größe’.“

Kojève bewies eine erstaunliche Hellsicht insbesondere zur wirtschaftlichem Zukunft Deutschlands. Seine politische und moralische Kraft aber überschätzte er maßlos, wenn er ihm zutraute, dem westlichen Imperium die „Marschrichtung“ vorzugeben. Andere Annahmen erwiesen sich als gänzlich falsch. Kojève ging davon aus, daß das französische Kolonialreich und die kolonialen Überreste Spaniens erhalten blieben. Italien sollte seine verlorenen Kolonien sogar zurückerhalten. Sie waren als Machtressourcen unverzichtbar, wenn das lateinische sich gegen die zwei anderen Imperien behaupten sollte. Aber die Zeichen der Zeit standen auf Antikolonialismus. Machtpolitisch war Kojèves Konzept daher auf Sand gebaut.

Doch es ging ihm um mehr als um Macht. Das Lateinische Reich stellte er sich als eine Schutzhülle vor, unter der sich eine Kultur und Mentalität, „die einen tiefen Sinn für Schönheit einschließt“, ein Empfinden für das Sakrale besitzt und durch barocke Formen inspiriert ist, bewahren ließe.

Kojève verteidigte die „Kunst des Spielerischen, die die Quelle der Kunst im allgemeinen ist“. Sie aristokratisiere das bürgerliche Leben und verhindere seine Vulgarisierung. Diese Lebensform sah er gleichermaßen bedroht vom angelsächsischen Liberalismus, „der auf großen Konzernen und auf massenhafter Arbeitslosigkeit beruht“, und dem „barbaristischen“ Sowjet-Sozialismus, der „alle Möglichkeiten einer rationalen Wirtschafts- und Sozialorganisation“ ausschöpfe.

Nebenbei bemerkt gleichen Kojèves Argumente weitgehend denen, die Giselher Wirsing in dem 1944 erschienenen Essay „Das Zeitalter des Ikaros“ anführte. Der NS-nahe Wirsing sah in der mediterranen Welt eine besondere Blüte der europäischen Kultur, die unter das Diktat des kapitalistischen „Massen-“ und des sowjetkommunistischen „Maschinenmenschen“ zu geraten drohte.

Als die neben anderen von dem Kulturwissenschaftler und Autor Frank Böckelmann herausgegebene Zeitschrift Tumult im Jahr 1991 erstmals die deutsche Übersetzung des Textes veröffentlichte, wurde ein kurzes Nachwort des spanischen Philosophen Josep Ramoneda angefügt. Für Ramoneda war klar, daß das Lateinische lediglich ein inneres, ein immaterielles, ein Reich der Ästhetik sein könne. Die Wahrheitsliebe eines Voltaire, die sich freihält von ideologischem Fanatismus, die kommunikative Konzilianz der Spanier und der Sinn für Schönheit, der sich in Italien manifestiert, bildeten darin weiterhin einen Gegenpol zu der Verbissenheit, mit der die Deutschen sich als die „Verteidiger des Guten“ und die Japaner als Exponenten des Fleißes aufführten.

Den Offenbarungseid hinauszögern

Damit ist das Problem umrissen, das auch Agamben in seinem Aufsatz umtrieb. Das gegenwärtige „Europa“ – gemeint war die EU – habe zugunsten einer ökonomischen Logik „alle reellen Verwandtschaften in Lebensform, Kultur und Religion aufgegeben“. Indirekt nannte er Deutschland den Motor der Entwicklung. Agamben schloß sich der Auffassung an, daß die Deutschen mit dem Euro und der Austeritäts- beziehungsweise Sparpolitik, die Merkel offiziell zur Bedingung für deutsche Finanzhilfen macht, Europa dominieren wollen.

Diesem vermeintlichen Bestreben hielt Agamben entgegen: „Nicht nur ergibt es keinen Sinn, von einem Griechen oder einem Italiener verlangen zu wollen, daß er wie ein Deutscher lebt, doch selbst wenn das möglich wäre, würde es zum Verschwinden eines Kulturguts führen, das vor allem in einer Lebensform liegt. Und eine politische Einheit, die Lebensformen lieber ignoriert, ist nicht nur zu kurzer Dauerhaftigkeit verdammt, sondern bringt es nicht einmal fertig, sich als solche darzustellen – wie Europa sehr eloquent beweist.“

Er vermischt hier Richtiges und Falsches. In der Tat widerlegt ein Europa sich selbst, das seine historischen Wurzeln abschneidet und seinen kulturellen Reichtum planiert. Die Unterstellung allerdings, dies gehöre zu einer ausgeklügelten deutschen Eroberungsstrategie, ist vollkommen absurd. Hinter der deutschen Europa-Politik steckt überhaupt keine Strategie.

Aktuell besteht sie aus verzweifelten Abwehrbewegungen, um den fälligen Offenbarungseid so lange wie möglich hinauszuzögern. Langfristig ist sie vom Wunsch getrieben, Deutschland in Eu-ropa zum Verschwinden zu bringen und den Herausforderungen als europäischer Zentralmacht zu entgehen – also das genaue Gegenteil vom Wunsch nach „Größe“.

Der Verzicht auf eine eigene politische Idee aber macht die Bundesrepublik zum Werkzeug eines Zweckrationalismus, der alles, was geschichtlich gewachsen ist, zerstört und Europa in eine Konsumprovinz und in einen massenkulturellen Ramschladen verwandelt. Mit ihrem Wunsch nach Selbstabschaffung beschädigt sie nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen.

Die bundesdeutsche Europa-Politik ist in der Tiefenstruktur pathologisch motiviert. Deshalb – und nicht aus Deutschen- oder Europafeindlichkeit – scheitert selbst ein kenntnisreicher Mann wie Giorgio Agamben mit dem Versuch, sie in den Kategorien politischer Rationalität zu beschreiben.

Foto: Vincent van Gogh, „Der Mittagsschlaf“ oder „Die Siesta“ nach Jean-François Millet (1890): Der aus dem Spanischen stammende Begriff „Siesta“ geht auf lateinisch „sexta hora“ zurück, die sechste Stunde nach Sonnenaufgang. Damit ist in vielen südlicheren Ländern die Ruhepause zur Mittagszeit gemeint.

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