© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Im Brecht-Haus an der Berliner Chausseestraße, das ich zuletzt vor 1989 mit dem Literaturzirkel der EOS „Bertolt Brecht“ Halberstadt betreten hatte, zur Buchvorstellung des Doyens der deutschen Bildwissenschaft Hans Belting. Sein neuer Titel „Faces“, der eine Geschichte des Gesichts verspricht, läßt die Besucher augenscheinlich mit mancher Paradoxie ratlos zurück. Beispielhaft für Beltings Brillanz als sibyllinische Sphinx ist die Reaktion auf den Moderator, der um die Erklärung eines Satzes aus dem jüngsten Werk bittet: „Alles, was vom Gesicht beschreibbar und erzählbar ist, ist nur Spiegel für das, was nicht direkt da ist, sondern umstellt ist von Kulissen, in welche die Gesellschaften und Kulturen das Gesicht eingeschlossen haben.“ Der Angesprochene, keine Sekunde verlegen, weist diese Aufforderung, was es konkret mit dem auf sich habe, „was nicht direkt da ist“, einfach von sich: „Ja, das kann ich nicht besser ausdrücken.“ Das Publikum läßt das gleichmütig mit sich machen, Widerspruch erscheint wohl als Majestätsbeleidigung. Niemand traut sich, „Der Kaiser ist nackt!“ zu rufen.

Unversehens erinnert mich die Szene an die bestechende Polemik „Lacancan und Derridada“ des Germanisten Klaus Laermann aus dem Jahr 1986 (abrufbar im Online-Archiv der Zeit). Darin hatte dieser den Adepten der Frankolatrie unterstellt, sie wollten gar nicht verstanden werden. „Vielmehr wehren sie bereits den Anspruch des Verstehens als Zumutung ab.“ Jedes Begreifen erscheine ihnen als Übel, weshalb sie aus den Begriffen in die diskursiven Schutzburgen nicht hinterfragbarer Bilder und Metaphern flüchteten.

Tags darauf erneut im Brecht-Haus, diesmal zur Buchvorstellung von Herfried Münklers neuem Werk „Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“. Als der Historiker die gewaltige finanzielle Unterstützung des Deutschen Kaiserreichs für Lenin und der bolschewistischen Revolution anspricht, kommt von dem Moderator, einem taz-Journalisten, überhaupt kein Widerspruch: „Lenin – ja, als wir jung waren, aber das ist ja schon ’ne lange Weile her.“ Das Publikum lacht, offenbar teilt es dieselbe Geschichte. Und die, so Münkler, wäre wohl „anders verlaufen“, wäre Hitler im Ersten Weltkrieg nicht vom Gas vergiftet worden. „Wir europäischen Gesellschaften sind nicht mehr kriegsführungsfähig.“ Überaltert, seien wir „keine heroische Gesellschaft“ mehr. Wie würde Bertolt Brecht das kommentieren? Immer noch mit dem Satz: „Glücklich ein Land, das keine Helden nötig hat“?

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