© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Verbrechen gegen das eigene Volk
Arte erinnert in der Dokumentation „Der lange Schatten des Josef Stalin“ an den grausamen Diktator
Detlef Kühn

Dem langjährigen sowjetischen Diktator Josef Stalin wird – verglichen mit seinem Zeitgenossen und Kontrahenten Adolf Hitler – in Deutschland eine deutlich geringere Aufmerksamkeit in der Geschichtsschreibung und vor allem in den Medien zuteil. Während es in Deutschland sogar strafbar ist, Hitlers Verbrechen zu leugnen oder zu verharmlosen, wird Stalin einer solchen „Ehre“ nicht gewürdigt. Mit volkspädagogischen Überlegungen allein ist dieses Phänomen nicht zu erklären. Schließlich hatte Stalin auch in Deutschland vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg eine nach Millionen zählende kommunistische Gefolgschaft gefunden. Und auch die Zahl seiner Opfer steht der Hitlers nicht nach – im Gegenteil; wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß Stalin auch mehr Zeit für sein unheilvolles Wirken gegeben war.

Jedenfalls ist es erfreulich, wenn auch hier ein Sender wie Arte dem Thema „Stalin einst und jetzt“ eine ausführliche, politisch und handwerklich gelungene Dokumentation widmet. Wie schon beinahe üblich, muß auch in diesem Fall betont werden, daß es sich natürlich um eine französische und nicht etwa um eine deutsche Produktion handelt.

Der Film stützt sich weitgehend auf das historische Material, das die russische Stiftung „Memorial“ in den Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion zusammengetragen hat. Hier liegt ein Schatz, der in seiner Bedeutung für Forschungen zur Zeitgeschichte Rußlands und der Sowjetunion gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, zumal der Zugang zu staatlichen Archiven offenbar schon einmal leichter als jetzt möglich war. „Memorial“ konnte sich dabei auch auf Spenden aus westlichen Ländern stützen – eine Hilfe, aus der ihr jetzt ein Strick gedreht werden könnte. Die Stiftung muß, ebenso wie andere Institutionen auch, bei öffentlichen Auftritten die Bezeichnung „ausländischer Agent“ führen, eine Stigmatisierung, die sicherlich in der Bevölkerung nicht ohne Wirkung bleiben dürfte.

Der Film behandelt vor allem die Verbrechen Stalins, die sich gegen das eigene Volk richteten und zu millionenfachen Verlusten führten. Den Anfang machte der gewaltsam herbeigeführte Hungertod der Bauern in der Ukraine Anfang der dreißiger Jahre im Kampf gegen die Kulaken (freie Bauern). Danach folgten weitere „Repressionen“ gegen praktisch alle Teile der Bevölkerung, auch überzeugte Kommunisten, die sozusagen prophylaktisch in Lager eingewiesen wurden, wo sie bei Zwangsarbeit und Hunger häufig zugrunde gingen.

Es war reiner Terror, der ausschließlich der Einschüchterung der Massen diente. Das Lager-System „Gulag“ überzog große Teile des Landes; es wurde erst nach Stalins Tod reduziert. Die Reste werden noch heute genutzt. Zeitzeugen, die oft viele Jahre ihres Lebens in Zwangsarbeitslagern verbringen mußten, schildern eindrucksvoll ihre Erlebnisse und die Auswirkungen auf die Angehörigen. Praktisch sei, so heißt es, kaum eine Familie in der Sowjetunion von den „Repressionen“ verschont geblieben.

Unter diesen Umständen ist es allerdings erstaunlich, daß Stalin in Rußland jetzt, 60 Jahre nach seinem Tod, immer noch Bewunderer und Verteidiger seiner Politik findet, die im Film ebenfalls zu Wort kommen. Es gibt immer noch Denkmäler, die an den „großen Führer“ erinnern. Vor allem ein Ereignis halten ihm auch viele seiner Kritiker zugute: den Sieg über die „faschistischen“ Eindringlinge im Großen Vaterländischen Krieg.

Immer noch Denkmäler für den „großen Führer“

Die Erinnerung an den Sieg von 1945, als die Sowjetunion, also Rußland eine weltweit anerkannte und gefürchtete Macht war, bietet auch heute noch für viele Menschen Trost in der schmerzlich empfundenen nationalen Misere mit Korruption, Islamisten und den Auswüchsen des westlichen Kapitalismus. Wladimir Putin, sagt einer der Zeitzeugen im Film, sei Stalin als historische Gestalt eigentlich egal. Da er aber den Untergang der Sowjetunion vor 20 Jahren noch immer für die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts halte, sei es ihm offenbar ganz recht, wenn rund die Hälfte der russischen Bevölkerung, trotz unbestreitbarer Verbrechen mit mindestens 20 Millionen Opfern, noch heute an Stalin auch gute Seiten entdecken könne. Die russischen Kritiker dieser Haltung, die in dem Film ausführlich zu Wort kommen, plädieren dagegen weiterhin für Glasnost, also Offenheit, Transparenz, historische Wahrheit. Es wird auch für den Westen im Umgang mit Rußland von Bedeutung sein, welche Haltung sich dort dauerhaft durchsetzen kann.

Arte bietet anläßlich eines Rußland gewidmeten Themenabends am 28. Januar einen interessanten und wichtigen Film, der nicht nur Informationen über den Stalinismus und seinen Urheber und Namensgeber bietet, sondern auch Einblicke in die psychischen Befindlichkeiten der heutigen Bevölkerung ermöglicht.

Der lange Schatten des Josef Stalin.

Die finnisch-französische Dokumentation läuft am 28. Januar 2014 (22.05 Uhr) und am 4. Februar 2014 (8.55 Uhr) bei Arte.

www.arte.tv

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