© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Die Nato wußte mehr, als man denkt
Ein intimer Kenner über die Möglichkeiten der Aufklärung gegenüber dem Warschauer Pakt
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Günther Weiße war während des Kalten Krieges an entscheidenden Positionen bei der Funk-Aufklärung und -Abwehr im Nato-Hauptquartier tätig und gilt längst als Experte auf diesem Gebiet. In seinem neuesten Buch schildert er dessen Entstehung, den genauen Aufbau und interne Dienstabläufe, wobei das Schwergewicht auf dem Bereich „Militärisches Nachrichtenwesen“ im europäischen Hauptquartier SHAPE liegt. Daß er auch heute noch über schutzbedürftige Vorgänge zu schweigen hat, läßt er nicht unerwähnt, dennoch stellt Weiße viele geheimdienstliche Vorgänge überaus realistisch dar. Frei von jeglichen propagandistischen Beschönigungen legt es die großen Erfolge der Nato-Intelligence dar, ohne diejenigen der Spionage Ost-Berlins zu verharmlosen.

Truppenbewegungen in der DDR bestens überwacht

Aufgabe der Nato-Aufklärung war, jederzeit ein umfassendes Bild über die militärische Situation des Warschauer Paktes zu besitzen und möglichst ihre Absichten zu erkennen. Die Gewinnung solcher Erkenntnisse hing von den Fähigkeiten der einzelnen nationalen Nachrichtendienste und ihren dem Verteidigungsbündnis zur Verfügung gestellten Informationen ab. Diese basierten indes nicht zuletzt auf den politischen Vorstellungen der einzelnen Regierungen und deren – oft unterschiedlichen – Interessenlage. Daß diese zuweilen die Erkenntnisse ihrer Dienste nicht verwerteten, wenn jene nicht ihrem Wunschbild entsprachen, ist bekannt.

Diese verschiedenen Umstände konnten leicht zu einer falschen Beurteilung führen und damit eine große Gefahr darstellen. Die Nachrichten über die Lage im Osten als solche erachtet der Verfasser als „stets aktuell und aussagekräftig“: Man kannte genau die Verbände der einzelnen Waffengattungen einschließlich der Raketenkräfte in ihrer Anzahl und ihren Standorten. Zur Überwachung von Bewegungen der Panzer in der DDR wurden Sonden eingesetzt, die ihre Daten im Millisekundenbereich an einen Satelliten sendeten, welcher sie im gleichen Zeitraum weiterleitete. AWACS-Flugzeuge überwachten den Luftraum bis Polen.

Ab Mitte der achtziger Jahre setzten die USA Aufklärungssatelliten ein, deren Fotos sogar die Gesichter der Sowjetsoldaten und ihre Rangabzeichen festhielten. Wichtig für das frühzeitige Erkennen von Vorbereitungen für sowjetische Flottenoperationen war der vorgestaffelte Einsatz sowjetischer U-Boote – die NSA hatte die Seekabel der Marineführung Moskaus angezapft. Inwieweit westliche Dienste in östliche Verschlüsselungssysteme eindringen konnten, ist jedoch immer noch ein gut gehütetes Geheimnis.

Der Bundesnachrichtendienst besaß in der DDR „gut etablierte Quellen“, der Autor schätzt ihre Zahl auf zuletzt 500. Die nicht seltene Behauptung, Pullach habe beim Untergang der DDR „versagt“, ist völlig falsch. Die Zahl der dort allein 1989 eingegangenen Meldungen beläuft sich auf „mehr als 100.000“.

Weitgehend korrekt wurden von SHAPE die Angriffspläne des Warschauer Paktes eingeschätzt, was nach 1989 aufgefundene Dokumente bestätigen. Man ging davon aus, daß dessen Armeen aus dem Stand angreifen würden und nach sechs Tagen Mitteleuropa (einschließlich Österreich und Schweiz) besetzt hätten. Eine Stabsübung des Warschauer Paktes 1963 rechnete mit einem Einsatz von 400 Nuklearwaffen auf beiden Seiten und Gesamtverlusten allein auf östlicher Seite mit 1,3 Millionen Toten und drei Millionen Verwundeten.

Noch 1988, als Bonn von „Entspannung“ träumte, probte die DDR-Armee unter dem Decknamen „Bordstein-Kante“ die Eroberung West-Berlins innerhalb von 24 Stunden mit über 35.000 Soldaten, 300 Panzern und 36 MiG 21. Selbst 1989 planten Sowjet-Militärs einen Erstschlag mit mindestens 1.000 Nuklearwaffen gegen ein Ausbrechen der DDR aus dem Warschauer Pakt, was indes Gorbatschow untersagte.

Der Autor vergißt aber auch nicht, ganz offen die Gefährlichkeit der DDR-Spionage darzulegen. Im Bereich der Funk- und funktechnischen Aufklärung hat das MfS, wie die Bundeswehr 1990 überraschend feststellen mußte, „erstaunliche Leistungen“ vollbracht. Gleiches muß man dem Zentralen Funkdienst der NVA zubilligen. Oft beruhte die Spionage auf Nachlässigkeiten im Umgang mit Geheimvorschriften und auf direktem Verrat, wobei Geldgier das häufigste Motiv war; das gilt auch für hohe Militärs. In all den Jahren spionierten 17.000 bis 23.000 Bundesbürger für die SED-Diktatur. Noch 1990, als die Berliner Mauer längst gefallen war, besaß das MfS in der Bundesrepublik 2.928 Mitarbeiter (Kuriere, Funker) und etwa 1.000 direkte „Quellen“.

Daß lediglich 252 dieser Spione später verurteilt wurden, hinterläßt keinen guten Eindruck von unserem Justizwesen – von Gerechtigkeit ganz zu schweigen. „Wegen der vielen Verratsfälle“, resümiert der Verfasser, „hatte die Bundesrepublik eine außerordentlich stark reduzierte Chance“ gehabt, „sich eines militärischen Angriffs erfolgreich zu wehren“.

Es ist wegen seiner ungeschminkten, schonungslosen Wahrheit ein Buch, das jeder politisch interessierte Staatsbürger genau lesen sollte. Er wird dabei überaus nachdenklich werden.

Günther K. Weiße: Nato-Intelligence. Das militärische Nachrichtenwesen im Supreme Headquarters Allied Powers Europe. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2013, broschiert, 387 Seiten, 29,90 Euro

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