© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

„Angelsachsen in Schach halten“
Neue Erkenntnisse über die Rolle Carl Friedrich von Weizsäckers im NS-Uranprojekt
Christoph Keller

Im Unterschied zu allen anderen großen Industrienationen pflegten die Deutschen stets ein gebrochenes Verhältnis zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. Der Ausstieg aus der Atomwirtschaft, beschlossen im März 2011, unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima, bildet daher den konsequenten Abschluß einer problematischen „Beziehungsgeschichte“, ungeachtet aller panischen Züge, die Angela Merkels „Energiewende“ fort von der Atomkraft wie eine spontane Angstreaktion erscheinen ließen.

Tatsächlich setzte Merkels Entscheidung für den Ausstieg nur den Schlußpunkt unter eine lange Entwicklung, die seit den siebziger Jahren, als „Anti-AKW-Demos“ in der Bonner Republik zu einer Art Volkssport avancierten, von offenem Widerstand, weit verbreitetem Unbehagen und diffusen, nach dem Tschernobyl-Unglück (1986) aber nicht mehr als unberechtigt abzubürstenden Ängsten gekennzeichnet war.

Mit Indizienbeweisen gegen die Widerstandslegende

Den Anfang dieses Distanzierungsprozesses markierte im April 1957 die „Göttinger Erklärung“, in der sich 18 westdeutsche Naturwissenschaftler, an ihrer Spitze die Physiker Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, gegen die Pläne von Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr aussprachen. Der ältere, 2007 mit 94 Jahren verstorbene Bruder des nachmaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker begann mit dieser Erklärung seine öffentliche Karriere als „Gewissen der Nation“, als Galionsfigur der pazifistisch-ökologischen Bewegung, als moralische Instanz, die das technisch Machbare meistens nicht für das politisch Wünschbare hielt.

Die einschüchternde Autorität von Weizsäckers speiste sich aus seiner vermeintlich „unbelasteten“ Vergangenheit im Dritten Reich. Mit seinem Lehrer und Förderer Heisenberg galt er als der maßgebende Physiker, der „Hitlers Bombe“, die deutsche Atombombe, verhindert hatte. Seit 1990 hat die wissenschaftshistorische Forschung diese Legende Stück für Stück zerstört. 2005 veröffentlichte der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch in seiner Studie über „die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche“ auch Ausschnitte aus der in einem Moskauer Archiv aufgefundenen Patentanmeldung des „Herrn Dozenten Dr. C. F. von Weizsäcker“ und präsentierte damit den letzten Indizienbeweis gegen die sorgsam gepflegte Widerstandsfama des sich ungern erinnernden Naturforschers.

Karlsch datierte das inzwischen im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft verwahrte Dokument auf den Frühsommer 1941. Der junge, „kriegsbeordert“ am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik (KWIP) tätige Wissenschaftler reklamiert darin für sich die Erfindung eines Verfahrens „zur explosiven Erzeugung von Energie und Neutronen aus der Spaltung des ‘Elements 94’, dadurch gekennzeichnet, daß das (…) ‘Element 94’ in solcher Menge an einen Ort gebracht wird, zum Beispiel in eine Bombe, daß die bei einer Spaltung entstehenden Neutronen in der überwiegenden Mehrzahl zur Anregung neuer Spaltungen verbraucht werden und nicht die Substanz verlassen“.

Wolf Schäfer, einstiger Mitarbeiter von Weizsäckers am Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, heute als Wissenschaftshistoriker in den USA lehrend, hat dieses Schlüsseldokument, das der primär an thermonuklearen Sprengversuchen des Heereswaffenamt interessierte Karlsch, nicht hinreichend ausschöpfte, zusammen mit anderen „Weizsäcker-Papieren“ nun erneut analysiert (Leviathan, 3/2013).

Mit seiner am KWIP, das seit Kriegsausbruch 1939 dem Heereswaffenamt unterstellt war, konzipierten „Plutoniumbombe“ ist ihr zum engsten Kreis des deutschen „Uranprojekts“ zählender Erfinder für Schäfer zweifellos nicht der sich nach 1957 inszenierende „Gewissensheld“, sondern neben Heisenberg der Konstrukteur der „deutschen Atombombe“. Denn ihm wie den übrigen Beteiligten in der Riege der, trotz mancher Einbußen durch 1933 emigrierte Kollegen, höchst leistungsfähigen Physiker-Elite des NS-Staates sei klar gewesen, daß das Uranprojekt auf die Erzeugung von waffenfähigem Plutonium in einer „Uranmaschine“ hinarbeitete.

Dafür seien zwar auch andere Wege verfolgt worden als Heisenbergs „Uranbrenner“, so das von Experimentalphysikern um Erich Bagge favorisierte Projekt einer Vorrichtung zur Uranisotopentrennung; aber über das Ziel, eine militärisch einsetzbare „Superbombe“ von unvorstellbarer Sprengkraft, bestand Einigkeit. Von Widerstand und Sabotage durch vorsätzliche Verzögerung oder Übertreibung technisch-materieller Probleme bei der Realisierung des Unternehmens könne auch in der Heisenberg-Fraktion keine Rede sein.

Bis 1942 überzeugter Parteigänger Hitlers

Im Gegenteil. Wie Schäfer darlegt, agierten Heisenberg und von Weizsäcker mindestens bis 1942 als überzeugte Parteigänger des Regimes. So habe ihr berühmter Besuch bei Niels Bohr im September 1941 im deutsch besetzten Kopenhagen nicht etwa dazu gedient, einen Kontakt zu US-Atomphysikern zu vermitteln, um eine „Internationale der Physiker“ zu stiften, die sich der militärischen Verwendung ihrer Forschungen verweigern sollte, sondern dazu, den „Vater des Atommodells“ von der Unausweichlichkeit des deutschen Sieges zu überzeugen und ihn so auf Kollaboration einzustimmen.

Von Weizsäckers politische Ambitionen hätten sich jedoch nicht in solchen Missionen erschöpft. Der spätere Pazifist, der seit den Siebzigern auch zur friedlichen Nutzung der Atomenergie auf Distanz ging, entpuppt sich in Schäfers teilweise noch spekulativen Deutungen als Verfechter eines „besseren Nationalsozialismus“. Er habe Adolf Hitler, den er als „Instrument der Vorsehung“ verehrte, die Botschaft von der „machbaren Atombombe“ erläutern wollen. Aber nicht, wie er 1991 in einem Spiegel-Gespräch sibyllinisch formulierte, um in „naiver Selbstüberschätzung“ irgendwie Einfluß im Sinne vager „Friedenspolitik“ zu nehmen, sondern um Hitler eine „Überwaffe“ anzubieten, um „Deutschlands Aufstieg zur ersten Atommacht der Welt“ zu garantieren. Die Macht der Atombombe sollte „die Angelsachsen in Schach halten“ und helfen, „Rußland zu kolonisieren“. Die verschwommene „Politik des Friedens“, über die von Weizsäcker mit seinem von ihm für „hochbegabt“ eingeschätzten Führer reden wollte, sei „die europäische Neuordnung unter deutscher Vorherrschaft gewesen“.

Doch erst wenn der Nachlaß des Mannes, der als Quantenphysiker wie als Religionsphilosoph beanspruchen durfte, ein Wiedergänger Alexander und Wilhelm von Humboldts in einer Person zu sein, einst freigegeben werde, so hofft Schäfer, könne man diese Dimension der nuklearen Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches präziser erfassen.

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