© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Jahrhundert der Extreme
Geschichtspolitik: Der Extremismusforscher Eckhard Jesse betrachtet die Zeitenwenden der vergangenen hundert Jahre aus heutiger Perspektive
Ekkehard Schultz

Zeitenwenden werden in ihrer Dimension von den Zeitgenossen meist verkannt und der tatsächliche Umfang der Umbrüche erst späteren Generationen offenkundig. Welche Bedeutung die Zeitenwenden des 20. Jahrhunderts auf unser heutiges politisches und historisches Bewußtsein haben, versuchte der Chemnitzer Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Eckhard Jesse in der vergangenen Woche in der Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung zu ergründen.

Er stellte das Jahr 1945 als den „stärksten und folgenreichsten Bruch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ dar. Dabei habe zunächst jedoch weniger der Blick auf den Nationalsozialismus die wesentliche Rolle gespielt, als vielmehr die Situation des militärisch besetzten und zerrissenen Deutschlands, die Dimension der allgegenwärtigen Zerstörungen sowie die Folgen von Flucht und Vertreibung. Der gewaltige Einschnitt, für den sich die Vokabel „Stunde Null“ einbürgerte, stand jedoch vor allem als Synonym für „das Ende alles Althergebrachten“, so Jesse. Dies begründe auch heute noch seine besondere Rolle – und dies sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in den individuellen Familiengeschichten.

Dagegen sei die Dimension des folgenreichen Zivilisationsbruchs von 1933 erst viele Jahrzehnte danach deutlich geworden. Für die Mehrheit der Zeitgenossen erschien die nationalsozialistische Machtübernahme als ein allmählicher und gleitender Prozeß, dessen volle Tragweite verkannt wurde.

Bedeutung von 1918 und 1989

Weit geringer könne dagegen aus heutiger Sicht die Bedeutung der Zeitenwenden von 1918 und 1989 eingeschätzt werden, so Jesse. So hätten 1918 der verlorene Krieg und seine Folgen weit mehr im Mittelpunkt gestanden als die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Weimarer Republik. Das Jahr 1989 interpretierte Jesse in erster Linie als Teilrevision von 1945, die auf innere Krisen der kommunistischen Regime und außenpolitische Entwicklungen – allen voran die schwindende Bindung der Sowjetunion zu den ehemaligen Ostblockstaaten – zurückzuführen sei. Ebenso wie 1918 nur Teile der Gesellschaft die Veränderungen spürten, war 1989 aus deutscher Sicht im wesentlichen nur ein Teilstaat von den Umwälzungen betroffen.

Doch wie wird die heutige Gesellschaft von diesen Ereignissen geprägt? Jesse verwies in diesem Zusammenhang auf einen grundlegenden Widerspruch. Einerseits könne heute, so Jesse, kein Zweifel daran bestehen, das sich die erweiterte Bundesrepublik schon lange „nicht mehr in ihren Lehrjahren“ befinde. Vielmehr stelle sie ein stabiles demokratisches System dar, daß sich bereits in mehreren Krisensituationen – so etwa der siebziger Jahre und der späten neunziger Jahre – bewährt habe. Ebenso sei auch die deutsche Einheit in erster Linie eine Erfolgsgeschichte. Gleichzeitig habe sich jedoch seit den achtziger Jahren eine Grundstimmung ausgebreitet, die als „stetiger Alarmismus“ bezeichnet werden könne. So versuche ein Teil der Gesellschaft, sich mit Gefahren- und Untergangsszenarien politischen Einfluß zu verschaffen, obwohl diese nur auf wenigen Fakten, jedoch um so stärkeren Emotionen basierten.

Der antitotalitäre Konsens schwindet

Leider gewännen sie leicht die Zustimmung von Bürgern, denen es – im Gegensatz zur Mehrzahl der Bewohner der großen westlichen Demokratien – nach wie vor an der notwendigen Gelassenheit und Zuversicht in ihr System fehle.

Als ein weiteres Problem bezeichnete Jesse das Schwinden des antitotalitären Konsenses in Deutschland, der bereits seit den siebziger Jahren in Frage gestellt worden sei. An dieser Entwicklung habe auch der Zusammenbruch der ehemaligen DDR von 1989 und seine Folgen kaum etwas geändert, sondern vielmehr diesen Trend noch verstärkt. Während der Antikommunismus als Relikt des Kalten Krieges betrachtet und häufig pauschal abgelehnt werde, sei der Antifaschismus zur „Spielwiese für Weltverbesserer“ geworden. Eine Unterscheidung zwischen demokratischem und antidemokratischem Antifaschismus finde zu weiten Teilen überhaupt nicht mehr oder nur noch in rudimentärer Form statt. Statt dessen werde mit dem Schlagwort des sogenannten „Extremismus der Mitte“ ein Konstrukt bedient, das auf einer Überdehnung des Extremismusbegriffes fuße. Dabei sei offenkundig, daß das Ziel der Protagonisten dieses Begriffes in der Delegitimierung des demokratischen Rechtsstaats liege, sagte Jesse.

Gerade weil sich die freiheitlichen Demokratien durch ein hohes Maß an gesellschaftlicher Individualisierung auszeichneten, sei es seiner Ansicht nach notwendig, in diesen Fragen einen Grundkonsens zu wahren. Dieser bestehe in der Akzeptanz der elementaren politischen Strukturen und Prozesse, zu denen Jesse ebenso einen antiextremistischen Konsens wie einen „positiven Patriotismus“ zählte.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen