© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Der Weg in den Ersten Weltkrieg
Was England wirklich wollte
Bruno Bandulet

Wirklich populär beim englischen Volk wurde Wilhelm II., als die Königin Victoria starb. Am 18. Januar 1901 erfuhr der Kaiser aus London, seine Großmutter liege im Sterben. Er reiste sofort ab und traf am 20. Januar in Osborne ein. Da führten die Briten immer noch Krieg gegen die Buren, in Deutschland und anderswo brodelte die antibritische Stimmung. Wilhelms Berater im Auswärtigen Amt in Berlin störten sich am langen Aufenthalt des Kaisers in England.

Lord Esher, ein Intimus des englischen Königshauses, beschrieb die Sterbeszene so: „Der Prince of Wales kniete neben dem Bett. Der Deutsche Kaiser stand still am Kopfende neben der Königin. Alle Kinder und Enkel waren versammelt, in Abständen riefen sie ihren Namen. Die Königin schlief friedlich ein. Als der König nach London fuhr, kümmerte sich der Kaiser um alles. Seine Güte und Entschlossenheit waren außerordentlich – ganz anders, als man es von ihm erwartet hätte. Er weigerte sich, die Königin wegen des Sarges messen zu lassen; er wies die Männer aus dem Zimmer, schickte nach Reid und nahm die Messungen selbst vor. Er und der König und der Herzog von Connaught hoben die Königin in den Sarg.“

Bestattet wurde die Queen erst zwei Wochen später. Der Kaiser beschloß, in England zu bleiben und seinen Tanten beizustehen. Am 5. Februar, dem Tag seiner Abreise, fuhr er durch die Straßen Londons. Die Menge feierte ihn mit stürmischen Ovationen. Ein Mann rief: „Thank you, Kaiser!“ Lord Esher schrieb: „Der Deutsche Kaiser hatte heute einen noblen Empfang durch die Bürger Londons. Nach seinem Verhalten während der letzten zehn Tage haben sie ihm die Krüger-Depesche verziehen. Ich war in der St. James Street. Das Gefolge bot einen prächtigen Anblick. Der Himmel war blau. Sehr wenig Polizei. Viele Menschen. Viel Beifall. Sehr herzlich. Der Kaiser dankte für die Hoch-Rufe.“

Anschließend traf man sich zu einem großen Frühstück im Marlborough House. Zum Mißfallen seiner Entourage verlieh der Kaiser an Lord Roberts, den Oberbefehlshaber der britischen Armee, den Schwarzen Adlerorden. Das Motto dieses höchsten preußischen Ordens lautete „Suum cuique“. Jedem das Seine – ungefähr so stellte sich Wilhelm das Verhältnis zwischen Deutschland und England vor. Dann hielt er eine Rede, holte weit aus und beschwor die deutsch-englische Freundschaft:

„Ich glaube, daß die beiden germanischen Nationen sich nach und nach besser kennenlernen werden und daß sie einander helfen werden, den Weltfrieden zu bewahren. Wir müssen eine englisch-deutsche Allianz schaffen – Sie, um die Meere zu überwachen, während wir für das Land verantwortlich sein würden. Mit einer solchen Allianz könnte keine Maus sich in Europa ohne unsere Erlaubnis rühren. Und die Nationen würden mit der Zeit einsehen, daß die Rüstungen beschränkt werden müssen.“

„Die Deutschen hätten sich“, meint Michael Stürmer, „kleiner machen müssen, als sie waren, um das europäische Gleichgewicht nicht aus den Angeln zu heben.“ Wirklich? Das ist zu sehr aus der Perspektive der Bundesrepublik heraus gedacht.

Tatsächlich aber war 1901, das Todesjahr der Queen, die seit 1837 geherrscht hatte, das letzte Jahr, in dem die Tür zu einer deutsch-britischen Allianz offenstand. Danach fiel sie ins Schloß. 1902 übernahm Arthur James Balfour, Mitglied der Konservativen Partei und Neffe von Lord Salisbury, das Amt des Premierministers. Zwei Jahre später wurde die Entente cordiale mit Frankreich abgeschlossen. 1906 kamen die Liberalen an die Macht. Sir Edward Grey wurde Außenminister und blieb es bis 1916 – ein den Deutschen zunehmend feindlich gesonnener Politiker ebenso wie sein engster Mitarbeiter und Vordenker Sir Eyre Crowe. Unter Grey wurde das, was die Deutschen als Einkreisung empfanden, bittere Realität.

Daß die sporadischen Bündnisverhandlungen, die von 1898 bis 1901 geführt wurden, ergebnislos endeten, war um so erstaunlicher, als ausgerechnet in diesen Jahren Joseph Chamberlain als stärkste Persönlichkeit den Kabinetten Salisbury (1893–1902) und Balfour (1902–1905) angehörte. Als Kolonialminister spielte er die führende Rolle auf der politischen Bühne in London. Ein eingefleischter Imperialist, glaubte er an die Weltmission der Angelsachsen – und er machte sich stark für ein Bündnis mit Deutschland.

Die Frage war nur, zu welchen Bedingungen. Noch 1901 übermittelte die Wilhelmstraße, der Sitz des Auswärtigen Amtes in Berlin, konkrete Vorschläge an das englische Außenministerium unter Lord Lansdowne. Gedacht war an ein Verteidigungsbündnis zwischen dem Dreibund, zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien einerseits und Großbritannien andererseits. Die militärische Beistandsverpflichtung sollte greifen im Falle eines Angriffs durch mehr als eine Großmacht, zum Beispiel durch Rußland und Frankreich.

Berlin verlangte, das Unterhaus solle den Vertrag billigen, und er solle für fünf Jahre gelten. Daß sich Whitehall auf diese Weise nicht binden wollte, dürfte eigentlich in der Wilhelmstraße keine große Überraschung ausgelöst haben. Die Briten waren zu diesem Zeitpunkt zwar schwer angeschlagen durch den Burenkrieg, und sie fürchteten in Asien die russische Expansion, aber sie hielten immer noch fest an ihrer Politik der „freien Hand“.

Auch in Berlin glaubte man, auf Zeit spielen zu können. Eine fatale Fehleinschätzung – schon 1904 legten London und Paris ihre Differenzen in Afrika bei. Nicht der Kaiser, sondern Reichskanzler von Bülow und sein Berater Friedrich von Holstein waren verantwortlich dafür, daß die Verständigung mit England scheiterte. Ihnen fehlte das Gespür Bismarcks für die Gefährdung der Mittellage Deutschlands.

Es habe viele Gründe gegeben, meint Michael Stürmer, warum die deutsche Politik, die doch das englische Bündnis so lange gesucht habe, damals die Chance einer gesicherten Weltmachtstellung im Akkord mit England nicht ergriffen habe. Zuletzt aber laufe jede Erklärung auf die deutsche „Hybris“ hinaus und auf die europäische Hegemonie, „die die Deutschen wollten und die sie nur durchsetzen konnten gegen England“ („Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918“).

Das erinnert ein wenig an Fritz Fischers These vom „Griff nach der Weltmacht“, es ist nur moderater formuliert. „Die Deutschen hätten sich“, meint Stürmer, „kleiner machen müssen, als sie waren, um das europäische Gleichgewicht nicht aus den Angeln zu heben.“ Wirklich? Das ist zu sehr aus der Perspektive der Bundesrepublik heraus gedacht, die politisch klein und finanziell groß (und mit Scheckbuch) aufzutreten pflegt.

Bismarck, den Stürmer zu Recht den wilhelminischen Außenpolitikern als Vorbild empfiehlt, hat sich nie kleiner gemacht als er war. Adenauer übrigens auch nicht. Bismarcks Außenpolitik basierte nicht auf vorgetäuschter Schwäche, die ohnehin nicht honoriert worden wäre, sondern auf einer Kombination von Risikobewußtsein, Verläßlichkeit, diplomatischer Finesse, Skrupellosigkeit, wo erforderlich – und Friedensliebe.

Oft zitiert wird der Satz aus seiner Reichstagsrede vom 6. Februar 1888: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt.“ Unterschlagen wird meist der Satz, der folgte: „Und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.“ Was die Epigonen Bismarcks mehr als alles andere von ihm unterschied, waren handwerkliche Fehler, taktisches Ungeschick und der Mangel an schöpferischem strategischen Denken. Eine außenpolitisch geschulte Elite wie diejenige, auf die sich das britische Empire stützen konnte, fehlte in Deutschland.

Aus dem Rückblick läßt sich feststellen, daß 1901 eine Chance verpaßt wurde – aber nicht, weil das Deutsche Reich aggressiver aufgetreten wäre als andere Großmächte. Stürmer korrigiert sich dann selbst, wenn er einen Schritt weiterdenkt und schreibt: „Nicht anders als die deutsche Politik schlingerte Whitehall in den Wellen der öffentlichen Meinungen, Gefühle und Stimmungen.“ Das Spiel der Machtverhältnisse in England, weniger die Analyse der Weltpolitik, habe schließlich zur Identifizierung der Deutschen als Hauptfeind geführt.

Der springende Punkt: Während London und Berlin noch über einen Vertrag und seine Modalitäten sprachen, wurde anderswo imperialistische Weltpolitik gemacht – und da fiel dem Deutschen Reich trotz mancher martialischer Reden in Berlin nur eine Nebenrolle zu.

Auch britische Historiker können dem Vorwurf der deutschen Hybris nicht folgen. Niall Ferguson kommt zu diesem Fazit: „Die wirkliche Erklärung für das Scheitern eines anglo-deutschen Bündnisprojekts lag nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche Deutschlands. Es waren allerdings schließlich im gleichen Umfang die Briten wie die Deutschen, die der Vorstellung von einer Allianz ein Ende bereiteten. Und die Briten taten dies nicht, weil Deutschland anfing, eine Bedrohung für Großbritannien darzustellen, sondern weil sie im Gegenteil erkannten, daß von Deutschland eine derartige Bedrohung nicht ausging“ („Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert“, Hervorhebungen im Original).

Dazu paßt, was Francis Bertie, Unterstaatssekretär im Foreign Office, im November 1901 sagte: Mit einem deutsch-britischen Bündnis würden „wir niemals mit Frankreich auf gutem Fuße stehen, unserem Nachbarn in Europa und in vielen Teilen der Welt, oder mit Rußland, dessen Grenzen sich in großen Teilen Asiens mit den unseren direkt oder beinahe berühren“. Premierminister Salisbury, im Amt bis 1902, habe sehr ähnliche Ansichten über die relative Bedeutung Frankreichs und Deutschlands vertreten.

Ferguson weiter: „Die britische Außenpolitik zwischen 1900 und 1906 diente also der Beschwichtigung jener Mächte, die die größte Bedrohung für die eigene Position Großbritanniens darzustellen schienen, und dies geschah selbst um den Preis guter Beziehungen zu weniger wichtigen Mächten. Verfolgt man die Entwicklung der Jahrhundertwende, zählte Deutschland offenbar zur letztgenannten Kategorie – Frankreich, Rußland und die Vereinigten Staaten dagegen zählten zu den starken Mächten.“ Ferguson verweist auf die zahlreichen Kriege, die die USA („eine aggressive Macht“) in diesen Jahren führten. Er fügt hinzu: „Im Vergleich zu den USA stellte Deutschland eine ausgesprochen friedfertige Macht dar. Und wieder einmal gab Großbritannien dem Starken gegenüber nach.“

Zu einem noch schärferen Urteil kommt der britische Historiker A. J. P. Taylor, der jeder Apologetik zugunsten Deutschlands unverdächtig ist: „Was die Briten wollten, war ein Verbündeter gegen Rußland im Fernen Osten. Sie würden die Navy stellen, der Verbündete die Fußtruppen. Sehr schön für die Briten. Aber vom deutschen Standpunkt aus gesehen, war das ein irrsinniger (insane) Vorschlag – sich auf einen großen Krieg zu verpflichten, einen Krieg auf Leben und Tod, um der britischen Investments in Schanghai und im Jangtse-Tal willen“ („From The Boer War to the Cold War“).

Das ist der springende Punkt: Während London und Berlin noch über einen Vertrag und seine Modalitäten sprachen, wurde anderswo imperialistische Weltpolitik gemacht – und da fiel dem Deutschen Reich trotz mancher martialischer Reden in Berlin nur eine Nebenrolle zu. Wer Politik analysieren will, muß sich an das halten, was die Akteure tun, weniger an das, was sie sagen.

 

Dr. Bruno Bandulet, Jahrgang 1942, ist Publizist, Verleger und Buchautor. Als Journalist war er Chef vom Dienst bei der Welt und Vize-Chefredakteur bei der Quick und schrieb für etliche Zeitungen und Magazine. Bandulet gibt den Informationsdienst Gold & Money Intelligence (G&M) heraus.

Bruno Bandulet: Als Deutschland Großmacht war. Ein Bericht über das Kaiserreich, seine Feinde und die Entfesselung des Ersten Weltkrieges. Kopp-Verlag, Rottenburg 2014, gebunden, 304 Seiten. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – ein adaptierter Auszug aus dem Buch, das soeben erschienen ist.

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