© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Der Flaneur
Sozialistischer Realismus 2014
Paul Leonhard

Eine große schwarze Dampflok haben die Stadtväter neben dem Bahnhof plaziert. Gut sichtbar für die Reisenden. Eine Aufforderung zum Aussteigen und Staunen, der sich insbesondere Eisenbahnfans nur schwer entziehen können. Auf einer Tafel steht alles Wissenswerte. Es handelt sich um eine alte Dame aus Österreich. Im April 1943 in der Lokfabrik Wien-Floridsdorf gebaut. Bis 1945 tat sie „Dienst im faschistischen 2. Weltkrieg“. Ich stutze ob dieser Formulierung aus SED-Zeiten. Ich sehe die „Faschisten“ in Fernost vor mir.

Ein Soldat mit Sowjetstern reicht einem Arbeiter etwas: Kommißbrot oder Ziegelstein?

Nach zwei Jahren Kriegsdienst gehörte die Lok zu den wenigen, die nicht an die russischen Sieger ausgeliefert wurden. Genau sind Reparaturen und Generalinstandsetzungen aufgelistet. Ende 1986 wurde sie wegen „starker Auszehrungen in der Verbrennungskammer und Matratzenbildung im Kesselblech der Feuerbüchse“ in den Ruhestand versetzt. Aha. Bei einer Runde um den Oldtimer entdecke ich eine schneebedeckte Tafel: „Den gefallenen Eisenbahnern zum Gedächtnis.“ Die Jahreszahlen 1914 und 1918 sind durch ein Eisernes Kreuz getrennt.

Es bleibt Zeit für einen Spaziergang. Eine Ernst-Thälmann-Straße führt ins Zentrum. Das Relief neben dem Polizeirevier würdigt den ermordeten Kommunistenführer. Die Fassade des Postgebäudes zeigt sozialistischen Realismus aus den fünfziger Jahren. „Ist das nicht eine Schande?“ fragt ein älterer Mann, als ich fotografiere. Und die Umrandung des historischen Brunnens am Marktplatz ziert ebenfalls sozialistische Kunst. Ein Soldat mit dem Sowjetstern reicht einem Arbeiter etwas: ein Kommißbrot oder einen Ziegelstein?

Verleugnet diese Stadt ihre Geschichte? Schließlich wurde sie kurz vor Kriegsende zurückerobert und erst nach der Kapitulation schwer zerstört „befreit“. Die neuen Machthaber richteten hier ein Gefängnis ein, in dem Andersdenkende eingesperrt wurden. Heute gibt es eine Gedenkstätte. Ein Schild an der Autobahn lädt zu einem Besuch im „Gelben Elend“. (ho)

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