© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Theater als Gemeinschaft der Selbsterkenntnis
Der Übergriff des Gesamtkunstwerks: Was eine Aufführung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ in Amsterdam mit dem Himmel über Dresden zu tun hat / Die spektakuläre Inszenierung von Pierre Audi verabschiedet sich von der Bühne
Sebastian Hennig

Zwei Tage vor Heiligabend lief im niederländischen Fernsehen der Film „De Hemel boven Dresden“ („Der Himmel über Dresden“) von Paul Cohen und Martijn van Haalen. Aktueller Anlaß dafür war die Wiederaufnahme von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ an der Niederländischen Oper Amsterdam unter der Leitung des in Dresden geborenen Dirigenten Hartmut Haenchen. Es handelt sich dabei um die erste szenische Gesamtaufführung des Werks in Amsterdam.

Der Film zeigt den Dirigenten während der Generalprobe: Das weiße Haupt und die Hände mit dem Taktstock, ins Dunkel hinein gebietend. Nach einer Weile fährt die Kamera über eine Fotografie von der ausgebrannten Lebenshülle einer modernen Großstadt. Das Bild der Verheerung ist lapidar unterschrieben: Dresden 1945. Dann sind zwei Herren zu sehen, mit Sakko und Hut, die vor der Fassade eines Plattenbaus entlanglaufen. Trotz der Farbe ein noch trostloserer Anblick als die Ruinen.

Ein anderes schwarzweißes Foto zeigt einen kleinen Jungen mit fast mädchenhaften Zügen. Die Stimme des Dirigenten berichtet: „Der kleine Hartmut Haenchen, zwei Jahre alt, hat immer Bilder im Traum, von einem Feuermeer, auf das er schaut, aus einem Kellerfenster.“ Hinter dem Kellerfenster, dessen Form sich der Erinnerung einbrannte, toste ein Flammenmeer. Das Kellerfenster als Höllenschlund. Niemand vermag zu sagen, wer alles darin verschwand. Denn die Feuerbrandung schlug so hoch, daß die Menschen von ihr zerstäubt wurden.

Spät kam der Vater aus dem Krieg zurück. Er wurde vom Sohn als fremder Mann empfunden, der immer unzufrieden ist und schimpft. Man denkt unwillkürlich an den einäugigen Wanderer Wotan, wie er sich Siegfried in den Weg stellt. Doch eines Tages hat er einen schwarzen Volksempfänger mit nach Hause gebracht. Die Mutter gibt dem Sohn, der gerade Lesen lernt, ein Reclam-Heft mit dem Textbuch vom Ring: „... dann kam irgendein quakendes Geräusch aus dem Gerät. Meine Mutter saß davor, vollständig konzentriert. Daß war mein Bekanntwerden mit Wagner.“

Auf dem Schreibtisch am Fenster hinter dem Erzählenden steht eine kleinere Replik der Plastik des nackten Mannes von Wieland Förster, der sich in sich selbst (vergeblich?) zu bergen sucht. Vor Jahren gab es Streit um die Wiederaufstellung dieses Erinnerungsmales an die Opfer der Zerstörung Dresdens (JF 4/10). Der Film spürt den Überschneidungen von Lebensweg und Kunstausübung nach. Während Haenchen seine Stasi-Akten liest, ist auf der Bühne eine Brünnhilde zu sehen, der sich Gunther und Siegfried unter dem Tarnhelm annähern. Sie schreit: „Verrat!“

Die Zuschauer werden in das Geschehen einbezogen

In der Unterlagenbehörde sieht man den Mann über den unseligen Hefter gebeugt sagen: „Unglaublich.“ Auf Nachfrage enthüllt er, daß ihn während seiner Zeit als junger Kantor in Dresden-Cossebaude sein Onkel mit einer Denunziation über ein staatsfeindliches Flugblatt in eine lebensbedrohliche Lage brachte. Die unerträgliche Pointe besteht darin, daß dieser Onkel seinerseits während des Krieges durch die Familie vor judenfeindlicher Verfolgung geschützt wurde. Haenchen sagt es auf holländisch: „... also eigentlich, ich erwarte keine Dankbarkeit dafür, aber ich erwarte nicht, daß so jemand dann zwanzig Jahre später mitmacht.“

Angesichts solcher Ungeheuerlichkeiten erübrigt sich die Frage, was uns Richard Wagners Werk über Neid, Verrat und erlösende Liebe heute noch zu sagen hat.

Obgleich der Amsterdamer Ring viele Anhänger gewinnen konnte, war in Deutschland wenig darüber zu hören. Und wer sich bereits hinreichend abgehärtet glaubte gegen den szenischen Unfug hierzulande, der wird mit einem Mal wieder empfindlich für Wagners durchdringenden Zuruf: „Wir müssen sterben lernen. Die Furcht vor dem Ende ist der Quell aller Lieblosigkeit. Und sie erzeugt sich nur da, wo selbst bereits die Liebe erbleicht.“

In seiner Einführung zum Werk, das auf vier CDs erschienen ist, bezeichnet Haenchen diese Äußerung als den Kernsatz für den ganzen Ring. Er hat seine Bemühungen um den Ring unter das Motto „Von der Unvereinbarkeit von Macht und Liebe“ gestellt.

Das Besondere der Inszenierung von Pierre Audi besteht nun in der Einbeziehung nicht nur der Musiker, sondern auch der Zuschauer in das Geschehen. Neudeutsch als „Adventure Seats“ bezeichnete Hängebalkons plazieren eine Anzahl von Zuschauern direkt über der Bühne, von wo sie den Abgang der Darsteller, das Heer der Techniker und Komparsen sowie das Orchester sehen. Das ist Theater im griechischen Sinn als Gemeinschaft der Selbsterkenntnis.

Das Orchester wird in wechselnden Positionen, an den vier Tagen darin selbst einen Ring beschreibend, von den Sängerdarstellern auf Stegen und Brücken umwandelt. So gelangt das Parkettpublikum fast auf Tuchfühlung mit ihnen. Da sie zuweilen den Dirigenten im Rücken haben, werden dessen Anweisungen auf Monitoren an die Saalwände übertragen. Einen Vorhang gibt es nicht, nur das Dunkel des unbeleuchteten Saales. Vom Dirigenten ist nur das Lämpchen an der Spitze des Taktstocks zu sehen. Die Musiker spielen zunächst auswendig, da inszenierungsbedingt erst nach und nach die Beleuchtung an den Pulten angeht. Die zweieinhalb Stunden von „Rheingold“ verbringt Haenchen ohne Pause am Pult stehend. Der Orchestergraben wurde zusätzlich erweitert. So fanden fast zweihundert Musiker Platz – und 18 in f gestimmte Ambosse für die unter Alberichs Knute schaffenden Nibelungen.

Nicht allein durch die Aufhebung der räumlichen Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum wirkt die Handlung zu keinem Zeitpunkt theatralisch. Über den individuellen Klang der jeweiligen Stimme hinaus macht sich keine Sängerpersönlichkeit geltend. Alles Psychologische ist getilgt. Die Gesten und die Mimik imitieren keine Innerlichkeit. Die Darsteller sind momentan, was sie darstellen. Das beginnt mit Werner Van Mechelen, der mit Stummfilmgrimassen in der Art eines Emil Jannings die Anteilnahme an Alberichs dumpfen Qualen herausfordert.

Die Inszenierung ist auf DVD und CD dokumentiert

Eingehüllt von überirdischer Musik behält das Geschehen sein irdisches Gewicht kraft der unbefangenen Ernsthaftigkeit des Regisseurs, der ehrlichen Stofflichkeit, die George Tsypin in seinem Bühnenbild aus Holz, Glas und Metall wirken läßt, und der femininen Eleganz, die in den Kostümen der 2012 verstorbenen Eiko Ishioka zum Ausdruck gelangt. Nebenbei: Die japanische Designerin verantwortete 1985 das Dekor des Spielfilms über Yukio Mishima.

In zwei Fassungen ist die Inszenierung komplett dokumentiert. Eine große DVD-Box gibt die Premierenfassung von 1999 wieder. Auf Super-Audio-CD ist in vier Einzeleditionen oder als Box-Set die Besetzung von 2004/2005 nachzuhören. Es handelt sich um die erste Einspielung auf Grundlage der Neuen Richard-Wagner-Gesamtausgabe.

Dabei wurden Wagners eigene Änderungen und Überlieferungen unter anderem von Heinrich Porges und Hermann Levi herangezogen. Das Waldvöglein wird von einem Knaben gesungen. Alle Effekte werden mit herkömmlichen Mitteln ohne Elektroakustik erzeugt. Eine alte Donnermaschine, die vergessen in einer Bayreuther Scheune ruhte, wurde nachgebaut. Fafner ruft durch ein Sprachrohr.

Haenchen läßt so durchsichtig musizieren, daß man sich wundert über die Kraft, die schließlich doch völlig pathosfrei erzeugt werden kann. Selbst der Trauermarsch hat noch tänzerische Anmut im Geiste von Beethovens 7. Sinfonie, die Wagner einmal als Apotheose des Tanzes bezeichnete.

Als Walhall brennt, umschlingt der Feuerstrahl roter Leuchtstoffröhren an den Balkonbrüstungen alle Anwesenden. Während Brünnhilde in einem Flammenmeer vergeht, stößt der zerbrochene und zusammengeflickte Wotansspeer, wie ein aufgepflanztes Bajonett, splitternd aus der Wandung hervor. Daß nun die letzten Takte der letzten „Götterdämmerung“ zu jener Tageszeit erklingen, da sich vor 69 Jahren das Schicksal Dresdens erfüllte, kann unter diesem Dirigenten kaum als ein Zufall gelten.

CD: Live-Einspielung in der Besetzung von 2004/2005, einzeln oder als Box-Set

www.etcetera-records.com

DVD: Richard Wagner. Der Ring des Nibelungen. Nederlands Opera, Regie: Pierre Audi, iIllustrierte Inhaltsangabe, Besetzungsgalerie, Fernsehdokumentation über die Entstehung der Ring-Produktion, Interviews mit Audi und Hartmut Haenchen, 11 DVDs, OpusArte, 2013

www.opusarte.com

Die Filmdokumentation „De Hemel boven Dresden“ ist im Internet abrufbar unter:

http://programma.ntr.nl/

Foto: Szene aus „Götterdämmerung“ (links), Stephen Gould als Siegfried und Catherine Foster als Brünnhilde (unten): Nicht allein durch die Aufhebung der räumlichen Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum wirkt die Handlung zu keinem Zeitpunkt theatralisch

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