© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/14 / 21. Februar 2014

Gefallene Moralapostel
Affäre Edathy: Der ehemalige SPD-Hoffnungsträger ist nicht der einzige, bei dem Anspruch und Wirklichkeit auseinanderdriften. Eine Sammlung prominenter Fälle
Thorsten Hinz

Auch der loyalste Bundesbürger, der an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und an die Legitimität der politisch-medialen Klasse weiter glauben möchte, fragt sich inzwischen, wem er noch trauen kann. Denn immer mehr Aufklärer, Vorkämpfer, Querdenker und moralische Instanzen, auf die er seinen Blick richtete (besser: auf die sein Blick gelenkt wurde), kommen ihm abhanden. Der SPD-Politiker Sebastian Edathy ist der vorerst letzte in einer längeren Reihe.

Überlegenheit beruht nicht auf besseren Argumenten

Die Feministin Alice Schwarzer ist über ihren Kampf für Frauenrechte nicht nur zur mehrfachen Millionärin geworden, sie hat auch jahrzehntelang via Schweiz Steuern hinterzogen. Ähnlich der langjährige Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, der sich zwischen 2007 und 2011 eine Steuerersparnis in Höhe von 649.000 Euro genehmigte. Den 68er Studentenrebellen und selbsternannten Mustereuropäer Daniel Cohn-Bendit holen seine freimütigen Äußerungen über sexuelle Kontakte zu Kindern ein.

Auf den Grünen-Abgeordneten Volker Beck, der sich als Kämpfer für Minderheitenrechte hervortat, fallen Ausführungen zur „Entkriminalisierung der Pädosexualität“ zurück. 2010 mußte die Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, die mit ihrer Papstkritik und Gender-Bibel populär geworden war, wegen einer Alkoholfahrt zurücktreten.

Für den spektakulärsten Fall sorgte 2003 der Fernsehmoderator Michel Friedman. Der damalige CDU-Politiker und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland hatte Kontakte ins Rotlicht-Milieu geknüpft, um sich zwangsprostituierte ukrainische Frauen zuführen zu lassen. Seinen Lustgewinn soll er zusätzlich mit Kokain gesteigert haben. Den Strafbefehl wegen Kokainbesitzes akzeptierte Friedman daraufhin.

Die aufgezählten Fälle besitzen eine unterschiedliche Qualität und Intensität, die Fallhöhen der gestürzten Größen, ihre Bedeutung und das intellektuelle Niveau sind verschieden. Doch die Betroffenen haben gemeinsam, daß sie im öffentlichen Raum eine herausgehobene Rolle spielen und das herrschende linksliberale Meinungsspektrum repräsentieren.

Theo Sommer verbreitete in den achtziger Jahren, die DDR-Bürger würden voller Verehrung zu Erich Honecker aufschauen. Heute bekennt er sich zur bereichernden Wirkung der kleinasiatischen Zuwanderung und meint, zur Behebung der Euro-Krise benötige man „Solidarität statt Solidität“. Auch den Deutschen sei viel Zeit eingeräumt worden, um ihre Schulden aus dem Ersten Weltkrieg zu begleichen. „Europa muß uns das wert sein.“ Alice Schwarzers lärmender Dauereinsatz gegen das Patriarchat läßt erahnen, daß das Matriarchat die weitaus schlechtere Alternative wäre. Und von Michel Friedman ist erinnerlich, daß der Vorwurf des Antisemitismus, des Rechtsextremismus und der Ausländerfeindlichkeit sein bevorzugtes rhetorisches Mittel war und manche Sendung zum medialen Volksgerichtshof geriet.

Die Genannten gehören einer Schicht an, die Caspar von Schrenck-Notzing als „Dressur-Elite“ bezeichnet hat. In der Binnensicht heißen sie „moralische Instanzen“ – ein Begriff, der zunächst die säkulare Form der Heiligen bezeichnete, inzwischen aber zur Medienfigur geschrumpft ist. Zu den Vor- und Unterformen zählen der Querdenker und der Aufklärer. Die Überlegenheit dieser Personen ergibt sich nicht aus den besseren Argumenten und auch nicht – wie nun zweifelsfrei feststeht – aus ihrer moralischen Bewährung, sondern allein aus der Hypermoral, als deren Sprecher sie auftreten. Die wichtigsten Elemente der Hypermoral sind: die unhinterfragbare Sakralität der NS-Verbrechen, das Bekenntnis zum besonderen Wert der Ausländer – insbesondere der nichteuropäischen –, der Frauen und der Schwulen sowie die rückhaltlose Bejahung der Zuwanderung, der Brüsseler EU, der Globalisierung und der Überwindung der Nationalstaaten.

Für die Hypermoralisten sind Geschlechterunterschiede nur soziale Konstrukte, und den menschengemachten Klimawandel halten sie für unbestreitbar. Widerspruch wird von ihnen als frauen-, schwulen-, menschen- und klimafeindlich, kurz: als „rechtsextremistisch“ attackiert. Falls die Hypermoralisten weiblich oder schwul sind, über ausländische oder jüdische Wurzeln verfügen, sind sie endgültig unangreifbar.

Atmosphäre des Eiferertums läßt Großmut nicht zu

Keine der genannten Personen ist daher an klügeren Diskussionspartnern gescheitert. Sie sind allesamt gestolpert, weil sich herausstellte, daß sie der Hypermoral selber nicht gerecht wurden. Vor allem im Fall der Bischöfin Käßmann war der Anlaß kleinlich, und in früheren Jahren wäre über ihn der Mantel der Diskretion gebreitet worden.

Doch die Atmosphäre des Eiferertums, die die Moralisten verbreiten, läßt Großmut und Verschwiegenheit nicht mehr zu. Zu den Begleiterscheinungen gehört auch, daß sie bewundert und gefürchtet werden, doch im Konfliktfall wenige Freunde haben. Frau Käßmann hatte die Gefahr erkannt und war sofort von allen Ämtern zurückgetreten, um sich – in allerdings pharisäerhafter Weise – eine Phase der Buße aufzuerlegen. Sie hat ihren Sturz am besten überstanden.

Ganz anders Alice Schwarzer, die ihren Steuerbetrug mit ihrer Opferrolle in der männerdominierten Gesellschaft entschuldigte. Die härteste Breitseite feuerte daraufhin ausgerechnet die taz ab: „Alice Schwarzer ist kein Opfer. Sie ist die reichste Feministin Deutschlands. Sie hat die Hybris der Reichen an den Tag gelegt. Und sie hat betrogen. Uns alle. Allerdings: Sie hat es gemacht wie alle.“ Dieser letzte Satz muß für Schwarzer, die sich für unersetzbar und singulär hält, der schlimmste sein.

Sebastian Edathy galt noch nicht als Instanz, aber bereits als Aufklärer von hohem moralischen Anspruch. Als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses habe er sich Ansehen und Verdienste erworben, verbreiten fast alle Medien. Tatsächlich? Sicher, seiner Feststellung des multiplen Behördenversagens kann man kaum widersprechen. Doch die Kernfrage ist eine andere: Mehr als zwei Jahre nach dem Tod zweier mutmaßlicher Täter und ein Jahr nach dem Beginn des Verfahrens gegen Beate Zschäpe hat die Bundesanwaltschaft noch immer keinen „rauchenden Colt“ auf den Richtertisch gelegt und ist die Täterschaft unbewiesen. Die Bedeutung dieser Merkwürdigkeit hat Edathy wohl noch nicht einmal begriffen.

Seinen „Kampf gegen Rechts“ hat er mit einem Fanatismus geführt, der eines Savonarola würdig gewesen wäre. Sogar die biedere Union wurde von ihm als „völkisch“ angegriffen. Sein Credo lautete: „Das Grundgesetz weist jedem Menschen gleiche Würde und gleiche Rechte zu. Rechtsextremisten stellen das in Frage. Deswegen ist der Kampf gegen Rechtsextremismus immer ein Beitrag zur Verteidigung der Demokratie.“ Doch aus der Tatsache, daß das Grundgesetz allen Menschen die gleiche Würde zuweist, folgt keineswegs, daß alle Menschen beim deutschen Staat die gleichen Rechte geltend machen können. Wer das einfordert, Moral hin oder her, möchte Deutschland abschaffen.

Nun, da seine pädophilen Neigungen offenliegen, drängt sich die Frage auf, ob sein hypermoralischer Kampf nicht in Wahrheit ein Aufbegehren gegen das Über-Ich, gegen die allgemeinen moralischen Normen war, die ein Ausleben dieser Neigungen ächten.

Ein weiterer Moralist, vor dem man sich zu Recht gehütet hat.

 

Ertappt!

Alice Schwarzer

Als Anfang Februar dieses Jahres der Spiegel über eine Selbstanzeige Schwarzers bei den Finanzbehörden wegen unversteuerter Kapitalerträge in der Schweiz berichtete, reagierte Deutschlands prominenteste Feministin beleidigt: Die Veröffentlichung sei illegal und Teil einer Kampagne gegen ihre Person. Mit der Nachzahlung von 200.000 Euro konnte Schwarzer ein Strafverfahren wohl abwenden. Doch das lebende Denkmal wackelt, gerade auch weil die Kämpferin für Frauenrechte und straffreie Abtreibung, gegen Prostitution und Sexismus mit ihrer aggressiven Art vielen auf die Nerven geht„.

 

Volker Beck

Geht es „gegen Rechts“ oder gegen „Homophobie“ steht der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck stets in vorderster Reihe. Zumindest in den Medien. Wenn ihm vorgeworfen wurde, er habe sich 1988 für eine „Entkriminalisierung der Pädosexualität“ ausgesprochen, stritt er dies stets mit dem Hinweis ab, der veröffentlichte Text sei ohne sein Wissen verfälscht worden. Ein im vergangenen Sommer gefundenes Manuskript zeigt jedoch, daß Becks Aussagen kaum verändert wurden. Seit der Bundestagswahl 2013 ist Beck nicht mehr Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion.

 

Margot Käßmann

Ungerechtigkeit, Krieg, Unterdrückung – zu allen brennenden Problemen kann Margot Käßmann etwas sagen, eindringlich Verbesserungen einfordern. Die Theologin machte eine beeindruckende Karriere, wo sie auftrat, war der Raum voll, die Quote gut. Landesbischöfin in Hannover und Ratsvorsitzende der EKD konnte sie auch dann bleiben, als ihre Ehe geschieden wurde; normalerweise werden Pfarrer in solch einem Fall versetzt. Als im Februar 2010 bekannt wurde, daß Käßmann mit über 1,5 Promille Alkohol im Blut am Steuer ihres Wagens von einer Polizeistreife gestoppt worden war, trat sie zurück.

 

Michel Friedman

„Du kannst in Deutschland alles sagen, was du willst – du mußt nur bereit sein, die Konsequenzen zu tragen“, stellte Michel Friedman einmal fest. Daß diese Konsequenzen hart sein können, dazu hatte der Publizist mitunter kräftig beigetragen, indem er Kritik an israelischer Politik schnell unter Antisemitismusverdacht stellte (Stichwort „Möllemann-Affäre“ 2002). Als ihm Kokainkonsum und der Verkehr mit Zwangsprostituierten vorgeworfen wurde, mußte er den stellvertretenden Vorsitz im Zentralrat der Juden niederlegen; Friedmans mediale Karriere war für rund ein Jahr unterbrochen.

 

Günter Grass

Wenn einer das linksintellektuelle Gewissen Deutschlands verkörpert, dann Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger kämpfte stets für das Gute, für Willy Brandt und seine Ostpolitik, gegen „Revanchisten“, „Kalte Krieger“ und „Großdeutschland“. Grass geißelte „rechte“ Geschichtsklitterung und wetterte gegen ehemalige NS-Mitläufer in der bundesdeutschen Politik. Als er – erst – im Jahr 2006 bei Erscheinen seines autobiographischen Werkes „Beim Häuten der Zwiebel“ zugab, er sei mit 17 zur Waffen-SS gegangen, bekam seine Fassade als moralische Instanz erkennbar Risse.

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