© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/14 / 21. Februar 2014

Europäische Visionen aus Stalins Giftküche
Aus den Papieren der EU-Illuminaten: Gedankenspiele über ein „Lateinisches Imperium“ am Collège de Sociologie in Paris 1937–1939
Robert Rielinger

Das Kolleg um Georges Bataille, Roger Caillois und Pierre Klossowski löste sich schon nach zwei Jahren Arbeit an einer „Sakralsoziologie“ 1939 wieder auf. Diese Soziologie wollte in Anlehnung an die Soziologen Émile Durkheim und Marcel Mauss einen „progressiven Mythos“, einen „dritten Weg“ mit eigener Eschatologie, Ökonomie, Utopie und einem Organisationsmodell gegenüber Kommunismus und Faschismus formulieren. Seit 1977 wurde die Hinterlassenschaft des Kollegs durch den amerikanischen Romanisten Denis Hollier rekonstruiert und ist nun überarbeitet in deutscher Übersetzung zu lesen.

Eschatologisch verkündet der erst 1999 als Sowjet-Agent enttarnte Alexandre Kojève in seiner Hegel-Exegese am 4. Dezember 1937 den Hörern des Kollegs nicht nur das Ende der Geschichte, sondern ersetzt Napoleon, den „Weltgeist zu Pferde“ und Vollstrecker dieses objektiven Verlaufs, auftragsgemäß durch Stalin. Der so belehrte Bataille gesteht zwei Tage später, „daß der Prozeß, den Sie mir machen, mir hilft, mich mit größerer Genauigkeit auszudrücken. Ich gebe zu, daß die Geschichte von nun an vollendet ist.“ Dieses schauprozeßartige Geständnis paßt zwar kaum zum behaupteten „dritten Weg“, huldigt aber einer wirkmächtigen Formel. Denn ein „Ende der Geschichte“ wird 1992 erneut unter Bezug auf Kojève und mit dem ErsetzenStalins durch „Neue Weltordnung“ von Francis Fukuyama als geschichtsphilosophischer Goldstandard dekretiert. In kleinerer Euro-Münze heißt das heute „alternativlos“.

Ökonomisch propagiert Bataille am im Juni 1939 eine Verschwendungsökonomie mit abstrakt-biologistischer Wertschöpfung. Gesellschaften erwirtschaften laut Bataille in der Auseinandersetzung mit der Natur jenseits einer notwendigen Akkumulation stets einen verfügbaren Überschuß, der sakraler Verschwendung, „Verausgabung“ oder „provokanter Selbstzerstörung des Reichtums“, verfalle. Ethnologisch mag das für archaische Potlatsch-Gesellschaften zutreffen. Für die Moderne leuchtet es weniger ein, zumal Bataille und Kojève eine merkwürdige Auswahl treffen.

Bataille stellt Stalins „ursprüngliche Akkumulation“ in den fünfziger Jahren ausdrücklich von diesem Verausgabungsgebot frei. Kojève – später als KGB-Agent hochrangig im französischen Wirtschaftsministerium für EWG und GATT zuständig – plante seit 1945 für Deutschland eine solche Verausgabung zur Finanzierung eines „lateinischen Imperiums“ unter Frankreichs Führung und Ausschluß Englands. Über den Mitagenten Charles Hernu (später Verteidigungsminister) und den Freund Raymond Barre (später Ministerpräsident) prägte er eine antideutsche Ausrichtung in der EU mit.

Utopisch formulieren Bataille und Caillois 1938 ein biologistisches Gesellschaftskonzept naturhafter Wech-selwirkungen, die in weiteren Texten des Bandes als „acephales“ Zentrum und „efferveszente“ Basis figurieren. Das manierierte Vokabular meint mit „acephal“ ein Machtzentrum, das nicht sichtbar funktioniert und nicht herkömmlichen Vorstellungen nationaler Volkssouveränität verpflichtet ist. Letztere findet ihren Ausdruck in Empörungen, Wallungen, „Efferveszenzen“ (Mauss).

Dies liest sich als parodistische Vorwegnahme des EU-Status: ein ungewählt-gesichtsloses („acephales“) Machtzentrum und zahlreiche Empörungsangebote für die Wutbürger. Auch hier gibt es wie im Fall Kojèves eine personale Kontinuität. Der unlängst verstorbene „Empörer“ Stéphane Hessel stammt über seinen Vater aus dem Umfeld des Kollegs und wirkte als graue Eminenz der UN-Menschenrechtserklärung an der neuen Weltordnung mit, die ihm schließlich Anlaß für auflagenstarke „Efferveszenz“ gab.

Organisatorisch versuchen im März 1938 Bataille und Caillois die Mitglieder des Kollegs auf ein heidnisches Ordensideal einzuschwören. Hierzu war dem Kolleg auch die praktische Ausübung des Acephale-Kultes angegliedert, der allerdings selbst von Mitstreitern belächelt wurde. Eine historische Reflexion des eigenen Organisationsmodells fehlt, wozu sich die französische Logen- und Illuminatentradition angeboten hätte. Bezugnahmen von 1939 auf „Hitler und den Deutschen Orden“ (Bataille) und auf die „Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland“ (Hans Mayer) zeigen einerseits hilflose Faszination (Bataille), andrerseits eine banale Zurechnungslogik, wenn Burschenschaften mit christlich-nationalem Antisemitismus gleichgesetzt werden oder Lützows Jäger als SS-Vorläufer firmieren.

Gegenüber der historischen und biographischen Brisanz des Materials verharren die deutschen Editoren Irene Albers und Stephan Moebius in ehrfürchtiger Paraphrase. Die schlägt in geschichtsträchtiges Pathos um, wenn sie die ungewisse Dynamik von kopflosem Souverän und Wallungen einer multikulturellen Basis als „Neo-Tribalismus“ „posttraditionaler Gemeinschaften“ feiern. Gerne würden sie damit das alte Legitimitätsdogma des „herrschaftsfreien Diskurses“ (Habermas) zeitgemäß beerben, wie sie betonen. Mit ihrem Plädoyer für die Legitimität eines Gesellschaftsmodells zukünftiger Bürgerkriege erfährt das knapp 900 seitige Textkonvolut abschließend eine angemessene Aktualisierung.

Ideologische Fakten zur Metapher „EUdSSR“

Kojèves „Zauberlehrlinge“ – so der Meister über die Adepten des Kollegs – haben ihren Cocktail aus Geschichtsdeterminismus, Verschwendungsökonomie, Entnationalisierung und Geheimbündelei vor 75 Jahren gemischt. Daß diese Rezeptur bereits im Entwurf magisch-strafbewehrt war, zeigt Klossowskis Beschreibung: „Wir erfinden neue Tabus.“

Holliers Textsammlung dokumentiert einen ideologischen EU-Urknall. Dieser macht aktuell auch das Hintergrundrauschen in Giorgio Agambens Remake von Kojeves „Lateinischem Imperium“ als einer antideutschen EU-Südfront (Libération, 24. März 2013) und der beifälligen Resonanz in der französischen Linken aus. Die zögerliche deutsche Replik von Wolf Lepenies (Die Welt, 8. Mai 2013) verweist ein solches „Lateinisches Imperium“ zwar in die „historische Rumpelkammer“, verschweigt aber den Status Kojèves als Sowjetagent und läßt die jahrhundertelange Wahrung des lateinisch-imperialen Anspruchs gerade durch ein Römisches Reich Deutscher Nation unerwähnt. Das ist kaum mit Unkenntnis begründbar – verdeutlicht aber Tabus, wie Klossowski sie für Kritiker der „Zauberlehrlinge“ vorsah.

Der Sammelband kann – sicher entgegen der Absicht seiner Herausgeber – beim Tabubruch helfen, indem er zur Metapher „EUdSSR“ historisch-biographische und inhaltlich-ideologische Fakten liefert.

Denis Hollier (Hrsg.): Das Collège de Sociologie 1937–1939. Bearbeitung und Nachwort von Irene Albers und Stephan Moebius. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, broschiert, 875 Seiten, 20 Euro

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