© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Europa hat versagt
Weil unsere politische Führung den Ukrainern nichts bieten konnte, ist sie mitschuldig am Blutvergießen
Ewald Stadler

Die Ereignisse in der Ukraine überschlagen sich. Analysieren wir die Vorgänge etwas genauer, dann bleibt aber nur eine Erklärung übrig: Der Versuch der EU, die Ukraine gegen Rußland auszuspielen, ist gescheitert, und daraus sollten wir Lehren ziehen. Allen voran die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, aber auch viele Abgeordnete, die in den vergangenen Wochen immer wieder den „Geist des Maidan“ romantisch verklärt und die Menschen dort aufgestachelt haben, tragen an der tragischen Eskalation erhebliche Mitschuld.

Wir erinnern uns: In gespieltem Mitleid haben sich Politiker und Medien in ganz Europa des Falles Timoschenko angenommen. Die Inhaftierung einer Kriminellen wurde zu einer Menschenrechtsproblematik erklärt. Nach einer Welle der Empörung brach schließlich die sozialistische EU-Abgeordnete Zita Gurmai aus Ungarn zu einer offiziellen (und vom Steuerzahler bezahlten) Visite in die Ukraine auf, wild entschlossen, die Haftbedingungen anzuklagen. Doch Frau Gurmai konnte an den Bedingungen, unter denen Julia Timoschenko ihre Haftstrafe verbüßte, nichts aussetzen und erklärte: „Sie (Timoschenko) sagte, daß ihr Schicksal für die Unterzeichnung eines Assoziationsvertrages und für das Schicksal der Partnerschaft zwischen der Ukraine und der EU kein bestimmender Faktor sein sollte.“

Doch diese Bitte stieß bei den EU-Menschenrechtsmissionaren aus durchsichtigen politischen Gründen auf taube Ohren. Bei einer Parlamentssitzung Ende des Jahres 2013 ging die sitzungsleitende Vizepräsidentin des EU-Parlaments sogar so weit, ein T-Shirt mit der übergroßen Aufschrift „Free Timoschenko“ zu tragen. Dieser undiplomatische Fauxpas ist leider nicht zum Lachen angesichts der Bilder, die uns derzeit aus der Ukraine erreichen.

Den Wilnaer Gipfel haben die Russen für sich entschieden. Wladimir Putin hat konkrete Angebote an die Ukraine gemacht und Bedingungen gestellt. Die ukrainische Regierung wußte in den Verhandlungen, worauf sie sich einlassen würde. Anders bei der EU: Die Einforderung von kryptischen europäischen Werten („Werte“ sind bei Eurokraten ein dehnbarer Begriff) und die Bedingung, Timoschenko freizulassen, um ein Freihandelsabkommen zu erreichen, waren für die Regierung Janukowitsch schlicht inakzeptabel.

Die Menschen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz kämpfen für eine bessere Zukunft. Es geht dort selbstverständlich in erster Linie um Wohlstandserwartungen. Das Freihandelsabkommen mit der EU hätte neue Möglichkeiten eröffnet. Doch die EU-Diplomaten haben die Hoffnungen der ukrainischen Bevölkerung nicht nur benutzt und gegen Rußland ausgespielt, sondern auch bitter enttäuscht. Erst nach dem Scheitern der Verhandlungen sind die Ukrainer auf die Barrikaden gegangen.

Wer jetzt einseitig Rußland dafür die Verantwortung zuschiebt, muß sich den Vorwurf des zynischen Mißbrauchs der Ukrainer oder gar der gezielten Russophobie gefallen lassen. Putin hat seine Verhandlungschancen optimal genutzt, das kann ihm niemand zum Vorwurf machen. Bevor man antirussische Anschuldigungen erhebt, sollten jene EU-Politiker, die auf dem Maidan Hetzreden hielten, über folgendes nachdenken: Wie hätten wohl die EU oder die USA reagiert, wenn beispielsweise bei den Protesten der Griechen gegen die Vorgaben der Troika in Athen russische Regierungs- und Parlamentspolitiker aufgetreten wären, um die dortige Bevölkerung gegen den Internationalen Währungsfonds, die Europäische Zentralbank, die EU oder gar gegen die USA aufzuwiegeln? Die Unionsunterhändler hatten schlicht nichts zu bieten. Dieses Versagen der EU ist die wahre Ursache für die Eskalation in Kiew.

Die selbsternannten Vermittler der Union haben die West-Ost-Polarität der Ukraine weiter verschärft. Wir wissen nicht erst seit gestern, daß die Ukraine aus zwei sehr unterschiedlichen Gebieten im Westen und im Osten besteht. Es ist irreführend, wenn man von einer Spaltung in einen proeuropäischen und in einen prorussischen Landesteil spricht. Das ist nur oberflächlich richtig.

Denn erstens muß man darauf bestehen, daß Rußland selbstverständlich zu Europa gehört. Europa und die Europäische Union gleichzusetzen oder den Brüsseler Beamten gar die Führungsrolle in Europa zuweisen zu wollen, widerspricht den historischen und politischen Tatsachen. Zweitens müssen wir feststellen, daß die Westukrainer Opfer eines „Teile und herrsche“-Spiels der Gutmenschen in der Europäischen Union geworden sind. Die EU schürte Hoffnungen, die sie niemals erfüllen kann.

Die Freilassung Julia Timoschenkos sorgte im Westen für Verwirrung anstatt für Beruhigung. Es ist offenkundig, daß sie das Land spalten und bis zu den Wahlen im Mai die Konflikte weiter anheizen wird. Für den Westen stellt das ein zu großes Risiko dar. Bleibt die Frage, wer die Rolle des Zahlmeisters übernehmen wird. Die ukrainische Spaltung zu verhindern, bedeutet nichts anderes, als das Land vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren. Mit milliardenschweren Transferzahlungen haben die Eurokraten freilich schon ihre Erfahrungen gemacht. Es hat sich gelohnt, mit der Naivität der Steuerzahler zu spekulieren, eine echte Abstrafung der Staatsschuldenpolitik ist zumindest im September 2013 ausgeblieben. Die Ukraine wird ein Finanzproblem darstellen, wogegen Griechenland geradezu ein Frühlingsspaziergang ist.

Die einzig langfristige Lösung wäre eine Einbeziehung Moskaus: Die ukrainische Spaltung kann nur überwunden werden, wenn die EU aufhört, Putin zu dämonisieren und deutliche Zeichen der Freundschaft setzt. Das könnte damit beginnen, daß sich die EU nicht als das alternativlose Europa begreift, sondern respektvoll anerkennt, daß auch die Russen echte Europäer sind.

 

Ewald Stadler ist Mitglied des Europäischen Parlaments.

www.ewald-stadler.at

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