© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

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Europawahl: Bundesverfassungsgericht kippt Dreiprozenthürde
Taras Maygutiak

Jetzt ist es amtlich. „Die Dreiprozentklausel im Europawahlrecht ist verfassungswidrig“, verkündete Karlsruhe am Mittwoch. Zwischen den Zeilen hatte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bereits in der mündlichen Verhandlung anklingen lassen, daß die Begründung des Urteils zur Fünfprozentsperrklausel vom 9. November 2011 aller Voraussicht nach auch bei der Dreiprozenthürde gelten werde.

Für die Wahl zum Europäischen Parlament war die Fünfprozenthürde 2011 bereits vom Gericht kassiert und für nichtig erklärt worden. „Der schwerwiegende Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen“, hieß es damals in der Urteilsbegründung. Allen gefiel dieses Urteil seinerzeit nicht.

Zahlreiche Parteien hatten geklagt

In Berlin machte man sich sogleich Gedanken, wie man die Entscheidung des höchsten Gerichts umschiffen könne. Vergangenes Jahr brachten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen dann am 4. Juni in trauter Eintracht einen Entwurf zur Änderung des Europawahlgesetzes ein, der eine Dreiprozenthürde festschrieb. Zur Begründung führten die Parteien eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom November 2012 an, in der die Mitgliedsstaaten zur Festlegung geeigneter und angemessener Mindestschwellen bei der Verteilung der Parlamentssitze aufgefordert wurden. Es gebe im Parlament eine „gestiegene Bedeutung stabiler Mehrheiten wegen der neuen Modalitäten für die Wahl der Europäischen Kommission im Vertrag von Lissabon“. Demnach werde sich das Verhältnis zwischen Parlament und Kommission ändern, war diese Entschließung begründet worden. Bei starker Zersplitterung im Parlament drohe zudem eine Blockade der parlamentarischen Willensbildung, was bei der Entscheidung des Gerichts 2011 noch nicht konkret absehbar gewesen sei. Der Entwurf ging durch. Am 7. Oktober stand die Änderung damit zunächst fest. „Es werden nur diejenigen Parteien und sonstigen Vereinigungen bei der Verteilung der Abgeordnetensitze zum Europäischen Parlament berücksichtigt, die mindestens drei Prozent der Wählerstimmen erreicht haben“, sollte künftig im Paragraph 2 Absatz 7 des Europawahlgesetzes stehen.

Dagegen liefen zahlreiche kleine Parteien aller Couleur Sturm. Nach dem Gesetzesbeschluß in der zweiten Juni-Woche 2013 reichten die NPD, die Bürgerrechtspartei „Die Freiheit“, ein Bündnis von zehn kleinen Parteien und Initiativen sowie die Piraten Klage ein. Nach Inkrafttreten des Gesetzes gesellten sich die Freien Wähler, die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Republikaner sowie die AUF-Partei (Christen für Deutschland) hinzu und legten Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein.

Die Antragsteller und Beschwerdeführer monierten, daß durch die Dreiprozenthürde die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit politischer Parteien verletzt würden. Sie pochten darauf, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November 2011 weiterhin Geltung habe. Schließlich habe sich die Sach- und Rechtslage seit dem Urteil nicht geändert, argumentierten die Antragsteller in der mündlichen Verhandlung. Die Entschließung des Europäischen Parlaments, die die Bundestagsfraktionen bei der Gesetzesänderung angeführt hatten, sahen die Antragsteller und Beschwerdeführer nicht als bindend an. Das sei lediglich eine Absichtserklärung. Das außerdem als Begründung der Dreiprozenthürde angeführte geänderte Verhältnis zwischen Parlament und Kommission, ließen sie ebenfalls nicht gelten. „Eine künftige Politisierung innerhalb des Europäischen Parlaments durch die Nominierung von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durch die Fraktionen ist spekulativ“, hatten die Prozeßbevollmächtigten der Kläger in der mündlichen Verhandlung argumentiert. Sie verwiesen darauf, daß die im Vertrag von Lissabon für die Wahl des Kommissionspräsidenten festgelegten Modalitäten bereits in der Entscheidung des Gerichts 2011 berücksichtigt worden seien. Einige Antragsteller und Beschwerdeführer hielten zudem die Einführung der Dreiprozentklausel für eine „unzulässige Normwiederholung“ und sahen das Gebot der Organtreue verletzt.

Auch die FDP kann aufatmen

Im Wesentlichen bestätigte Karlsruhe nun die rechtlichen Auffassungen der Kläger. Der Senat habe bei seiner Entscheidung denselben verfassungsrechtlichen Maßstab zugrundegelegt wie bei seiner Entscheidung vom 9. November 2011, sagte Gerichtspräsident Voßkuhle: „Danach sichert der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger.“ Die Stimme eines jeden Wahlberechtigten müsse daher grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben, so Voßkuhle. Bei den kleinen Parteien, die Klage eingereicht hatten, dürfte der Jubel groß sein. Ironie der Geschichte: Aufatmen wird man jetzt bei der FDP, die – schaut man auf die Umfragen – möglicherweise an einer Dreiprozentklausel hätte scheitern können. Die FDP-Fraktion hatte damals den Gesetzesentwurf zur Sperrklausel mit durchgewinkt.

Kommentar Seite 2

Foto: Karlsruher Richter nach der Urteilsverkündung: Stimmen müssen gleichen Zählwert haben

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