© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Ahnungslos in Wiesbaden
Fall Edathy: In Berlin wird über die Rolle des Bundeskriminalamtes und der niedersächsischen SPD in der Affäre spekuliert
Marcus Schmidt / Christian Vollradt

Der Fall Edathy begann am 15. Oktober 2013 um 15.21 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt klingelte im Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war ein Beamter der Polizeiinspektion Nienburg in Niedersachsen. Dieser berichtete Bemerkenswertes: Unter den Daten von Kunden eines Kinderpornoversands in Kanada, die das BKA an die Behörden in Niedersachsen weitergegeben hatte, befand sich der Name des Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy.

Dieses Telefonat, von dem BKA-Präsident Jörg Ziercke in der vergangenen Woche bei seiner Befragung vor dem Innenausschuß des Bundestages berichtete, hat der Affäre um Sebastian Edathy, die bereits Landwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich (CSU) das Amt gekostet, SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann an den Rand des Rücktrittes geführt und die Große Koalition in eine Krise gestürzt hat, eine neue Wendung gegeben. Nunmehr sind das BKA und sein Präsident Ziercke in den Fokus gerückt. Denn laut Ziercke lagen die Daten aus Kanada, die zwei Jahre später zur Enttarnung Edathys als Konsument von Nacktbildern junger Knaben führten, der Behörde bereits seit Ende November 2011 vor. Warum aber dauerte es zwei Jahre, bis die Ermittler auf den Namen Edathys stießen? Oder anders gefragt: Dauerte es wirklich so lange?

In Berlin kursieren seit der Aussage Zierckes unterschiedliche Deutungen. Die politisch gefährlichste geht so: Demnach ist das BKA sehr viel früher auf den Namen gestoßen, als bislang zugegeben. Doch wurde diese Erkenntnis von der Behörde bewußt zurückgehalten. Hierfür sind wiederum zwei mögliche Erklärungen im Umlauf, die beide mit dem NSU-Untersuchungsausschuß zusammenhängen. Dieser untersuchte ab Januar 2012 unter dem Vorsitz von Edathy ein mögliches Versagen der Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der dem NSU zugeschriebenen Mordserie. In diesem Zusammenhang wurde auch die Arbeit des BKA überprüft. Dabei geriet Ziercke während seiner Zeugenbefragung vor dem Ausschuß im Sommer 2012 mit Edathy heftig aneinander.

Fragen an die SPD in Niedersachsen

Vor diesem Hintergrund wird in Berlin gefragt, ob das BKA die Erkenntnise über Edathy möglicherweise bewußt zurückgehalten hat, um sie zum „richtigen“ Zeitpunkt gezielt an die Öffentlichkeit zu geben; etwa wenn das BKA und ihr Präsident im Zuge der NSU-Aufklärung erneut in Bedrängnis geraten sollte. Oder aber: Hielt das BKA die Erkenntnisse zurück, um die parteiübergreifend als wichtig erachtete Aufklärungsarbeit des Ausschusses durch einen Skandal um seinen Vorsitzenden nicht zu belasten?

BKA-Präsident Jörg Ziercke wies diese „Verschwöhrungstheorien“ Anfang der Woche zurück. „Derartige Spekulationen entbehren jeglicher Grundlage“, sagte Ziercke mit Blick auf einen entsprechenden Bericht der Bild. Es sei ungeheuerlich, den Beamten des BKA mit diesen Spekulationen strafbare Handlungen zu unterstellen und sie öffentlich zu beleidigen. Die zeitliche Verzögerung sei vielmehr dadurch zu erklären, daß sich das BKA zunächst mit schwerwiegenderen Fällen von Kinderpornographie beschäftigt habe. Als dann die minderschweren Fälle, zu denen auch die von Edathy bestellten Bidler und Filme nackter Jungs gehörten, bearbeitet wurden, sei der Name Edathy von keinem Beamten mit einem Bundestagsabgeordneten in Verbindung gebracht worden.

Abseits der Spekulationen in Berlin rückte in der vergangenen Woche auch Edathys Heimatland Niedersachsen in den Mittelpunkt des Interesses. Ein besonders negatives Licht wirft die Affäre dabei auf die niedersächsische SPD. Der Landesverband scheint es mit der Aufklärung nicht sehr eilig zu haben, obwohl er allen Grund dazu hätte. Während das Präsidium der Bundespartei am Montag ein Parteiordnungsverfahren gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten einleitete, hatte der niedersächsische Parteichef, Ministerpräsident Stephan Weil, vergangene Woche noch verkündet, man wolle die „Sache erst mal sacken lassen“, die Ermittlungen abwarten und nicht gleich den Parteiausschluß Edathys betreiben. Auch die Suche nach einer möglichen undichten Stelle im Landesverband scheint keine besondere Priorität zu haben.

Daß Edathys Informant ein Sozialdemokrat aus Niedersachsen ist, erscheint nicht gerade unwahrscheinlich, im Gegenteil. SPD-Chef Sigmar Gabriel, der im Oktober vergangenen Jahres vom damaligen Innenminister Friedrich informiert worden war, ist Niedersachse, genauso wie Thomas Oppermann. Daß der über die Vorwürfe Bescheid wußte, ist unbestritten; allerdings behauptet der jetzige Vorsitzende und damalige Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, der zugleich Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Göttingen ist, er habe über den Verdacht gegen Edathy mit niemandem in der Landes-SPD gesprochen. Zum Berliner Führungszirkel gehört mit Hubertus Heil noch ein weiterer Niedersachse, er ist Vorsitzender der Bezirks Braunschweig, Mitglied im SPD-Bundesvorstand und stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Außerdem nahm Niedersachsens Ministerpräsident Weil für die SPD an Koalitionsverhandlungen im Herbst teil; sollte beiden Spitzengenossen gegenüber tatsächlich verheimlicht worden sein, warum der Name Edathy im Personaltableau für die künftige schwarz-rote Koalition keine Rolle spielte?

Heiner Bartling, ehemaliger niedersächsischer Innenminister und früherer SPD-Landtagsabgeordneter aus Schaumburg, behauptet, Edathy sei gewarnt worden. Weiß er mehr? Hat er sich zumindest gegenüber seiner Partei offenbart? Öffentlich verlautbarte Bartling, Edathys Informant stamme nicht aus „parteinahen Kreisen“, was immer das heißen mag. Der Nachfolger Bartlings als Landtagsabgeordneter für Schaumburg, das wiederum zu Edathys Bundestagswahlkreis gehörte, ist Karsten Becker; der ist Vorsitzender des Unterbezirks Schaumburg – und war bis zu seiner Wahl ins Parlament 2013 als Erster Polizeihauptkommissar Beamter im niedersächsischen Innenministerium.

Von Brisanz ist auch, daß der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion und Abgeordnete für den Wahlkreis Nienburg, Grant Hendrik Tonne, sich jahrelang ein Wahlkreisbüro mit Edathy teilte. Die Opposition in Niedersachsen wittert schon ein Geschmäckle: „Vielleicht ist es diese besondere Nähe, die es Herrn Tonne jetzt so schwer macht, sich unmißverständlich von Edathy zu distanzieren“, teilte CDU-Generalsekretär Ulf Thiele mit.

Mit der Entscheidung, ein Parteiordnungsverfahren gegen Edathy einzuleiten, hat das SPD-Präsidium den Ball wieder nach Niedersachsen zurückgespielt. Zu entscheiden hat darüber nun der Bezirksverband Hannover, Heimat von Ministerpräsident Weil, der ja die „Sache erst mal sacken lassen“ wollte.

 

Wann wußte Sebastian Edathy was?

Sebastian Edathy war frühzeitig von den drohenden Ermittlungen gegen sich informiert. Bereits Ende 2013 schaltete er einen Anwalt ein, der in diesem Zusammenhang mit der Staatsanwaltschaft Kontakt aufnahm. Edathy sagt, er habe sich zu diesem Schritt entschlossen, nachdem er über die Medien von den Ermittlungen in Kanada erfahren hatte. Da seit Oktober 2013 die Informationen über das BKA und Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) an die SPD gegangen waren, wird derzeit aber auch dem Verdacht nachgegangen, Edathy könnte aus Partei- oder Polizeikreisen vorzeitig informiert worden sein.

 

Was besprachen Oppermann und Ziercke?

Am 17. Oktober 2013 rief der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, BKA-Präsident Jörg Ziercke an. Dieser habe ihm den Verdacht gegen Edathy bestätigt, behauptete Oppermann zunächst in der Pressemitteilung, die zu Friedrichs Rücktritt führte. Nachdem Ziercke dies bestitt, ruderte der SPD-Politiker zurück. Er habe Ziercke über seinen Kenntnisstand informiert, dieser habe sich dazu aber inhaltlich nicht geäußert, lautet nun seine Version. Ähnlich klang die Aussage Zierckes vor dem Innenausschuß.Warum Oppermann den BKA-Chef überhaupt angerufen hat, bleibt indes unklar.

 

Wer öffnete den Brief an den Bundestag?

Am 6. Februar 2014 schickte die Staatsanwaltschaft Hannover einen Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), um diesen über die Ermittlungen gegen Edathy zu informieren. Das Schreiben erreichte Lammert am 12. Februar – unverschlossen. Wurde der Brief abgefangen und geöffnet? Laut dem Vorsitzenden des Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), hat Bundestagsdirektor Horst Risse diesen Verdacht entkräftet. Allerdings stelle sich die Frage, warum der Brief per Post und nicht durch einen Boten übermittelt wurde. Edathy habe laut Bosbach vermutlich auf einem anderen Weg von den Ermittlungen erfahren.

 

Wo ist Edathy und wo sein Bundestags–Laptop?

Sebastian Edathy hält sich vermutlich im Ausland auf. Am Wochenende wurde bekannt, daß er seinen Diplomatenpaß nach der Niederlegung seines Mandates nicht zurückgegeben hat. Verschwunden ist auch Edathys Bundestags-Laptop. Dieser sei ihm am 31. Januar in einem Zug auf der Strecke Hannover–Amsterdam gestohlen worden, teilte Edathy am 12. Februar per Fax mit. Die Polizei hat den Laptop, auf dem sich wichtige Beweise befinden könnten, daraufhin europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Am Dienstag kündigte Edathy an, er werde seinen Diplomatenpaß in den nächsten Tagen zurückgeben.

Foto: Sebastian Edathy als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses: Hielt das BKA Informationen bewußt zurück?

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