© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Eine Stadt, die es nicht mehr gibt
Königsberg: Wer die russische Exklave Kaliningrad nach Überresten der ostpreußischen Residenzstadt durchkämmt, steht vor einem schwierigen Unterfangen
Ludwig Witzani

Das erste, was ich in Kaliningrad erblicke, ist die überlebensgroße Skulptur Michail Kalinins. Der Bolschewik Kalinin, ein Spießgeselle Stalins, hatte im Jahr 1940 den Mordbefehl von Katyn mitunterzeichnet. Später war er zum Staatspräsidenten der UdSSR und schließlich zum Namensgeber jener Stadt aufgestiegen, die einmal Königsberg gewesen war. Den rechten Arm abgewinkelt, das Kinn nach vorne gereckt und den Blick in eine verheißungsvolle Zukunft gerichtet – so empfängt das Abbild eines kommunistischen Massenverbrechers den Besucher auf dem Bahnhofsvorplatz. Rund um die Statue befinden sich beschädigte Fassaden, aufgerissenes Pflaster, eingeworfene Fensterscheiben und verbarrikadierte Hauseingänge. Das alte Königsberg gibt es nicht mehr. Die Perle der Ostsee wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges in einer Vollständigkeit vernichtet, wie es nur wenigen europäischen Städten wiederfuhr. Doch im Unterschied zu den Städten Schlesiens und Pommerns waren noch über 140.000 Deutsche im zerstörten Königsberg verblieben. Die meisten von ihnen wurden zu Zwangsarbeiten herangezogen, wobei weit über die Hälfte der Königsberger im ersten Friedensjahr verhungerte oder erfror. Der Rest wurde 1947 und 1948 nach Westen abgeschoben.

Rundliche Russinnen auf Betteltour

Die Überreste Königsbergs im neuen Kaliningrad zu suchen gleicht dem Bemühen, auf einem mittelalterlichen Manuskript den ursprünglichen Text wiederzuentdecken. Kaum originale Bausubstanz hat die Zerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges überstanden. Das, was wieder aufgebaut worden ist, läßt in seiner gefühllosen Künstlichkeit die Öde des aktuellen Stadtbildes nur um so deutlicher hervortreten.

Meine Suche nach der verlorenen Stadt beginnt im Frühstückssaal des Hotels „Kaliningrad“. Dort befindet sich an der Wand eine Bildergalerie mit Stadtansichten des alten Königsbergs. Da waren sie: der Kneiphof, das Ufer der Pregel zwischen der alten Börse und dem Dom, die Wrangelstraße und das alte Schloß – allerdings allesamt in so verwaschenen Farben präsentiert, als wolle man das fortschreitende Vergessen Königsbergs im Stadium des Verschwindens festhalten. Keiner der russischen Gäste, die in Jogginghose und Unterhemd den Frühstücksraum betreten, würdigt die Bilder eines Blickes.

Mein erster Rundgang durch Kaliningrad führt mich zum Königstor – einem der ehemals sechs prachtvollen Stadttore, das im 19. Jahrhundert errichtet wurde. Oberhalb des Tores haben die Erbauer drei bedeutende Herrschergestalten aus der Geschichte Königsbergs in Stein verewigt. Zur Linken König Ottokar II. von Böhmen, der anläßlich eines Kreuzzuges gegen die heidnischen Pruzzen die Stadt 1255 gegründet und ihr dabei seinen Herrschertitel als Namensbestandteil überlassen haben soll. Die Gestalt zur Rechten zeigt Albrecht von Brandenburg, den letzten Hochmeister des Deutschordensstaates, der sein Territorium im Jahre 1525 als Vasall der polnischen Krone zum weltlichen Herzogtum Preußen umwandelte. Beide Figuren rahmen die Zentralgestalt des Königstores ein: den Hohenzollernkurfürsten Friedrich III. von Brandenburg, der sich 1701 im Dom von Königsberg zum preußischen König krönen ließ.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Soldaten der Roten Armee den drei Herrschergestalten die Köpfe abgeschossen – erst Spenden aus Deutschland ermöglichten die Restaurierung des Tores. Auch der berühmte Königsberger Dom auf der Pregelinsel, im Jahre 1944 vollständig zerstört, ist mit Spendengeldern aus Deutschland wieder aufgebaut worden.

Seit 1992 besitzt er sogar wieder seine berühmte Riesenuhr, ein intaktes Schieferdach und eine gewaltige Orgel. Allerdings wird das Gebäude heute nicht mehr als Kirche, sondern nur noch als Museum genutzt. Ganz offensichtlich hat das seiner touristischen Attraktion bei den deutschen Besuchern aber keinen Abbruch getan, denn zu allen Tageszeiten drängen sich Touristengruppen auf der Pregelinsel. Nicht nur ältere Menschen, auch viele jüngere Reisende sind dort unterwegs, Kinder und Enkel ehemaliger Ostpreußen, die wenigstens einmal im Leben den Ort ihrer Herkunft sehen wollen. Still und ergriffen lauschen sie den Erklärungen der Reiseleiter, manche sitzen auch schweigend auf einer der Parkbänke und lassen die Blicke abwechselnd zwischen dem Dom und der Silhouette Kaliningrads jenseits der Pregel schweifen.

Nur zwei Ecken westlich vom alten Schloßteich, jenseits einiger schäbiger Innenstadtgassen, erreiche ich das Universitätsgebäude. Von außen wirkt der Bau wie eine Lagerhalle. Von Campusatmosphäre ist nichts zu spüren. War das wirklich der Ort, an dem Kant der Welt zum erstenmal seine „Kritik der reinen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ vorgetragen hat? Plötzlich stürzen drei ältere Damen wie entfesselte Furien auf mich zu. Rundliche Gestalten mit den rosigen Gesichtern russischer Babuschkas. Sie tragen Kopftücher und Schürzen und beginnen sofort, mir unter lautem Wehklagen ihre Hände unter die Nase zu halten. Ihr überraschender Auftritt entfaltet eine solche Wucht, daß ich fast reflexhaft in die Taschen greife und einige Euro an die Großmütter verteilte. Übergangslos lassen sie daraufhin von mir ab und ziehen sich wie eine erfolgreiche Partisaneneinheit, die aus dem Verborgenen operiert, wieder auf eine nicht einsehbare Bank am Rande eines winzigen Parks zurück.

Die Kant-Statue am Rande der ungepflegten Universitätswiese fällt gegenüber diesem bühnenreifen Auftritt etwas ab. Ganz ähnlich wie Kalinin auf dem Bahnhofsvorplatz befindet sich auch die Kant-Statue auf einem Sockel. Doch im Unterschied zur Kalinin-Statue ist die Kant-Skulptur auf die Geste der Disputation hin komponiert. Kants rechte Hand argumentierend erhoben, in der Linken der gezogene Hut als Zeichen der Anerkennung für einen fiktiven Gesprächspartner. Die Skulptur ist allerdings nur eine Kopie – die Originalstaue war am Ende des Zweiten Weltkrieges zerstört worden. Auf dem zeitweise verwaisten Sockel hatte dazwischen lange eine Skulptur des deutschen Erzstalinisten Ernst Thälmann gestanden.

Russische Einwohner sind Opfer, keine Täter

In den nächsten Tagen fahre ich mit der Straßenbahn kreuz und quer durch die Stadt. Überall Wohnblöcke mit grauen Fassaden und Satellitenschüsseln auf zugemüllten Balkonen, abbröckelnde Häuserwände und kümmerliche Gemüsemärkte. Am charakteristischsten aber sind die Hauseingänge: fast immer beschmiert und mit dicken Eisentüren mehrfach gesichert. Auf den Klingeln, sofern vorhanden, stehen keine Namen. Als würden die Bürger es vorziehen, hinter verrammelten Toren unkenntlich zu bleiben. Anders im Viertel Amalienau, der einzige Bezirk im alten Königsberg, der am Ende des Weltkrieges nicht vollständig zerstört wurde. Die restaurierten herrschaftlichen Häuser aus alter Zeit vermitteln einen Eindruck von der Noblesse großbürgerlichen Wohnens im späten neunzehnten Jahrhundert. Weiträumige Tore, gepflegte Gärten, von edler Patina überzogene Bronzeskulpturen, wohin das Auge auch blickt. An einigen Villeneingängen ist sogar noch das deutsche Wappen zu sehen.

Meinen letzten Abend verbringe ich am Ploschad Pobedy, dem Platz des Sieges, dem einzig sehenswerten Ort Kaliningrads, der nichts mit dem alten Königsberg zu tun hat. Dieser erst vor wenigen Jahren neugestaltete Platz verfügt über zwei Brunnen und zwei imposante orthodoxe Kirchen mit goldenen Kuppeln, dazu eine etwa 30 Meter hohe Siegessäule. Hier ist von den ärmlichen Lebensverhältnissen nichts mehr zu spüren: Inlineskater und Mountainbiker drehen dort ihre Pirouetten, kernige Väter tragen ihre kleinen Töchter auf den Schultern spazieren und überall sitzen Familien am frühen Abend zu einem Plausch beieinander. Ein Bild des Friedens, das klarmacht, wie wenig ein nostalgisch verengter Blick in die Vergangenheit der Gegenwart der russischen Stadt Kaliningrad gerecht wird.

Ich befinde mich eben doch nicht in Königsberg, sondern in einer anderen Stadt – mit Einwohnern, die jedes Recht der Welt haben, ihre eigenen Träume zu leben. Mag die Stadt auch den Namen eines Verbrechers tragen – die Menschen, die in dieser Stadt leben, sind ganz bestimmt keine Verbrecher, sondern Opfer einer planetarischen Schicksalslotterie, die ihnen eine harte Existenz in einer Exklave weit ab vom Rest ihres Vaterlandes zugeteilt hat.

Foto: Königstor: Mit deutschen Spenden wurde das Stadttor aus dem 19. Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg restauriert

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