© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Eisiges Abenteuer
Alaska: Entlang des Dalton Highways zeigt sich die Natur des nördlichsten amerikanischen Bundesstaates in unberührter Schönheit
Wolf-Ulrich Cropp

Der 4.000-Seelen-Ort Valdez im südlichen Alaska ist Ausgangspunkt des Unternehmens. Mein Freund und Fahrer heißt Jim Sanders. Er ist Ende Vierzig, ein Naturbursche, ein Outdoor-Mann mit breitem Grinsen und Falten tief wie Felsspalten, dazu Augen blau wie Gletschereis. Jim lebt gewöhnlich in einem Blockhaus unweit von Fairbanks, der größten Stadt im Hinterland Alaskas. Als ich erscheine, sitzt Jim schon am Steuer, seinen schwarzen Hut ins Genick geschoben. Ich werfe meinen Rucksack in den Wagen und schwinge mich auf den Beifahrersitz. Die Reifen knirschen über den Kies. Dem alten Fischerort Valdez gegenüber glänzen Tankbatterien und Tankerrümpfe in der Sonne. Jim steuert sein Fahrzeug direkt in die Chugach-Berge. Wir winden uns durch den Keystone Canyon und brummen einen Paß hinauf. Von Zeit zu Zeit blitzt der Aluminiumleib der Pipeline auf. Bisweilen folgen wir ihrer Trasse.

Mittags kommen wir in Jims Heimatort an. Fairbanks ist eine Pionierstadt, die im Goldrausch von 1901 entstanden ist, mit kernigen Typen, einer Menge Saloons, Indianern und Trappern. Nördlich von Fairbanks beginnt die Wildnis, dort enden die Straßen. Wer weiter will, muß entweder fliegen, wandern oder sich die einzige Straße zumuten – den berüchtigten Dalton Highway. Keinesfall sollte man sich diesen wie einen normalen Highway auf dem amerikanischen Festland vorstellen. An manchen Stellen erinnert die „Haul-Road“, wie der Dalton Highway früher hieß, mehr an einen besseren Feldweg. Wir klappern einige Stores und Tankstellen ab, kaufen ein paar Reservekanister, einige Büchsen Öl, Schnaps, Wasser, allerhand Proviant. Dabei erzählt mir Jim, daß der „Dalton“ erst 1990 für den Privatverkehr freigegeben wurde. Entlang der 720-Kilometer-Strecke gibt es zwar mittlerweile vier Tankstellen. Dennoch sollten Fahrer vorsorgen.

In der Nacht schlafe ich schlecht. Der Morgen graut. Allmählich: Licht und Sonne. Wir schleichen zum Nissan. Kopf und Körper heben sich getrennt hinein. Jim kitzelt das Gas, und ab geht die Post. Im Nu überrollen wir das letzte Stückchen Asphalt. Hier beginnt das Zünftige, der Dalton. Ab Livengood scheppert der Wagen über Schotter. Vier Stunden später geht’s auf der Patton Bridge über den mächtigen Yukon. Er ist kein Fluß, sondern ein 3.700 Kilometer langer Strom, ein Geflecht aus Wasserläufen, Adern, Seen. Wo Bären Lachse fangen und Eisschollen zu Tal krachen. Ich wende mich zur Seite und blicke staunend den majestätischen Strom entlang. Die Stützen der Brücken besitzen bugförmige Rammverstärkungen aus Stahl, um dem Treibeis Widerstand zu leisten. Das Brückenbauwerk, das auch die Pipeline aufnimmt, hat einst 250 Millionen Dollar verschlungen. Nur an dieser Stelle wird der Yukon seit 1976 gezähmt.

Eine Panne kann tödlich sein

Auf der anderen Yukonseite sieht die Landschaft schlagartig anders aus: unberührter, bedrohlicher und menschenfeindlich. Soweit das Auge reicht, erstreckt sich Fichtenurwald. Permafrost steckt im Boden. Ich spüre, daß dort draußen der brutale Kampf ums Dasein ausgetragen wird. Nicht der Mensch, die Natur macht die Gesetze! Hier beginnt das Land, wo Wölfe das in Nordamerika heimische Rentier Karibu reißen und hungrige Grizzlys Angst und Schrecken verbreiten.

Wer nördlich des Yukons eine Panne hat, kann umkommen. Daran ändert auch die Pipeline nichts, die mal ober-, mal unterirdisch im Zickzakkurs die Wildnis durchschneidet. Am Finger-Berg, der eigentlich eher ein breitgezogener Hügel ist, halten wir an. Der Blick reicht über eine schöne Felslandschaft bis zum Caribou-Berg. Im Licht des Mondes machen wir ein Rudel Timberwölfe aus. Es entschwindet in östlicher Richtung. Wir erreichen Coldfoot. Dort gibt’s eine Temperaturanzeige, die jenen Tag des Jahres 1989 dokumentiert, an dem das Thermometer auf minus 63° C fiel, die tiefste jemals in Nordamerika aufgezeichnete Temperatur. Nur etwa zwölf Meilen von Coldfoot entfernt liegt das frühere Versorgungsdepot für Goldsucher, Wieseman, das erst 1990 an den Highway angeschlossen wurde. Die Kiesdammpiste – sie mag sich hier zwei Meter hoch von der Umgebung absetzen und sieben Meter breit sein – führt schnurgerade bis in den diesigen Horizont hinein. Wir nähern uns dem Mt. Sukapak mit seiner bizarren 1360 Meter hohen Marmorspitze.

In den Hochmooren sehen wir die ersten Bären. Mittelgroße Schwarzbären, meist gutmütig. Die Piste steigt an, wird glatt und gefährlich. Den Atigun Paß, in der mächtigen Brooks Range gilt es zu überwinden. Schlittern wir jetzt vom Damm, sind wir geliefert. „Sollten wir nicht die Schneeketten anlegen?“ gebe ich zu bedenken. „Ungern im Revier der Bären. Seit der Pipeline sind sie verdammt aggressiv geworden“, wendet Jim ein. Außerdem kämen wir dann nicht von der Stelle.

Plötzlich schießt der Wagen nach rechts. Vorn ist ein Reifen geplatzt. „Nicht aussteigen!“ ruft Jim. Im Rückspiegel beobachtet er zwei Bären. Wir warten. Schließlich entwickelt sich der Wind zum Sturm und vertreibt die Tiere. Jim drückt mir seinen Schießprügel in die Hand. „Sichern!“ bestimmt er. Mit gefühllosen, eiskalten Händen geht‘s an einen Reifenwechsel und drei Stunden später weiter. In der Brooks Range wird die Piste unberechenbar: Schneeverwehungen, Schlaglöcher und Eisnebel – der berüchtigte Whiteout. „Wir machen besser Schluß und sehen uns die nächsten Kurven bei Tag an“, meint Jim.

Morgens weckt uns ein einsamer Indianer auf Schneeschuhen. Er fragt nach Brandy. Wir geben ihm schönen heißen Kaffee. Den spuckt er aus. Wir kaufen ihm Elchfleisch ab. 200 Meter weiter warten zwei Jäger mit Hundeschlitten. Einige Malamute, alaskische Hunde, heulen schaurig. Schiefstehende Fichten umgeben uns. Ein „drunken forest“, wie die Alaskaner das Phänomen nennen. Ein Werk des Frostes. Nun befinden wir uns mitten in der Brooks Range, dem am wenigsten erforschten Gebirge der Erde. Weiße Trapper haben hier vor 90 Jahren die Nunamiut entdeckt. Die letzten und einzigen Gebirgseskimos – für die Ethnologen ein Rätsel. Das Gebirge ist nach dem amerikanischen Geologen Alfred Brooks benannt worden. Unser Standort ist ein Zungenbrecher: Oksrukuyik, rund 80 Meilen nördlich des Polarkreises. Jenseits des Atigun Passes zieht eine Karibuherde an der Pipeline entlang und sucht einen Übergang. Schließlich erreichen wir den Ort mit dem einladenden Namen Disaster Creek. Bis 1981 war dies der Endpunkt des für die Öffentlichkeit mit einer Sondergenehmigung befahrbaren Dalton Highways. Die nackten Felswände der Brooks wirken wie eine unheilvolle Kulisse. Plötzlich zischt Jim: „Tür auf, abspringen. Ich kann den Wagen nicht mehr halten!“ In einer engen Kurve schiebt sich der Nissan unkontrolliert einem Abgrund zu. Als ich springen will, bleibt er stehen. Vorsichtig steigen wir aus. Eisige Stille ringsum. Eine Fußlänge trennt uns von der Katastrophe. Nun also doch: „Legen wir die Schneeketten an“, sagt Jim wie nebenbei. Ich mache mich an den Ketten zu schaffen. Ich friere bitterlich. Plötzlich tritt Jim neben mich und flüstert mir zu: „Hinter uns steht ein Bär. Bleib ganz ruhig.“ Doch auch diese Gefahrensituation überstehen wir. Der Bär verdrückt sich.

Tags darauf begegnen wir einer Gruppe indianischer Jäger, die Karibus schießen wollen. Die Männer haben von Kälte gegerbte Gesichter und sehen elend aus. Auf ihren Schlitten liegen steifgefrorene Biber, Bisamratten und Polarhasen. Ihr Sinn steht nach Feuerwasser. Im Gebirge wütet der Frost. Bisweilen knallt und donnert es. Dann poltern Felsbrocken und Steine in die Tiefe. Wir kommen an den Ort, den Jim die „Todeskurve“ nennt. „Da unten lagen mal 15 Trucks. Die Trucker nannten diesen Abschnitt Kamikaze-Trail.“ Draußen herrschen jetzt minus 25 Grad Kälte. „Den Motor werden wir jetzt nicht mehr abstellen“, meint Jim, „wir erfrieren, wenn er nicht mehr anspringt.“ Ich starre hinaus in die eisige Welt, und der Alaskaner erzählt: „Don, mein Onkel, arbeitete damals an der Pipeline. Eines Tages blieb sein Fahrzeug stehen. Die knappe Meile zum Camp wollte er zu Fuß gehen. Dann überraschte ihn der Nebel. Am nächsten Morgen fand man ihn. Steif wie ein Brett und tot.“

Naturschützer schlagen Alarm

Fast am nördlichsten Punkt unserer Reise angekommen, machen wir die ersten Bohrtürme aus. 3.000 Meter tief unter der Erde lagerten einst 50 Milliarden Barrel Öl. Heute ist die Fundstätte ziemlich ausgebeutet, und die Ölkonzerne kämpfen gemeinsam mit der Regierung gegen die Umweltschützer um Erlaubnis, Aufschlußbohrungen im angrenzenden Arctic National Wildlife Refuge, dem größten Naturschutzgebiet der USA, niederzubringen. Am Heald Point, direkt am Ufer der Beaufortsee, steigen wir aus. Der Wind weht eisig. Unser Blick schweift über Packeishalden und den Arktischen Ozean. Neugierig umschnürt uns ein Polarfuchs. Ein Schneehase hoppelt davon. Jim weist nach Westen. „Da, zwei Eisbären.“ Tatsächlich! Ich zücke meine Kamera.

Am Rande der Erdölförderungsanlagen im Küstenort Deadhorse kauert ein alter Inuit. Leere Augen blicken mich an. Sein Mund öffnet sich weit, als wolle er schreien: „Wo sind meine Jagdgründe, wo meiner Väter Land?“ Aber man hört ihn nicht. Jim wird hier in Deadhorse überwintern. Ich fliege drei Tage später mit Polar Air zurück nach Anchorage.

Aus dem Flieger werfe ich einen letzten Blick auf das fadendünne Band des Highways. Eisflächen blitzen in der Sonne. Ich denke an die Nächte im Wagen, die zitternden Sterne und die flammende Pracht des Nordlichts. Ich habe das Heulen hungriger Wölfe im Ohr, die schroffen wilden Felsen der Brooks vor Augen. Das ist Abenteuer, denke ich mir.

Wolf-Ulrich Cropp: Alaska-Fieber: Wildnis, Abenteuer, Einsamkeit. NG-Taschenbuch, München 2000, 288 Seiten, broschiert, 12,99 Euro

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