© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Suche nach einem Neuanfang
USA: Evangelikale debattieren über die Trennung von Religion und Politik in der Nach-Bush-Ära
Thorsten Brückner

Tosender Beifall und ein Meer von amerikanischen Flaggen bringen das Ronald-Reagan- Gebäude in Washington zum Beben. Eine Gruppe war an diesem Abend auf dem Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses: die Evangelikalen, die George W. Bush am 4. November 2004 eine weitere Amtsperiode als Präsident der Vereinigten Staaten sicherten. Die Zahlen waren rekordverdächtig: 79 Prozent der weißen Evangelikalen stimmten für Bush. Der ehemalige Gouverneur von Texas, obwohl nominell Methodist, war einer der Ihren.

„Wenn du dein Herz und dein Leben Jesus Christus gibst, wenn du Christus als deinen Retter annimmst, verändert es dein Herz, es verändert dein Leben, das ist was mir passiert ist.“ Mit solchen Sätzen wurde er zum Liebling der religiösen Rechten.

Evangelikale Latinos gehen von der Fahne

Die Strategie seines Wahlkampfmagiers Karl Rove war aufgegangen: Vier Millionen mehr Evangelikale müßten 2004 für Bush votieren als 2000, gab der Chefstratege als Ziel aus. Das Vorhaben gelang: Tausende Pastoren führten für ihren George einen Wahlkampf vom Altar, verteilten die in den USA nötigen Wahlregistrierungskarten teilweise noch während des Gottesdienstes.

„Die Kirche Jesu Christi machte den Unterschied, die Nation zurück zu moralischer Genesung und der jüdisch-christlichen Ethik zu führen“, erklärte der evangelikale Führer Jerry Falwell nach der Wahl. Eine neue Generation von „value voters“ (Wertewählern) schien sich anzuschicken, nicht nur dauerhaft den Kurs der Republikanischen Partei zu bestimmen, sondern auch das Land in eine fromme Zukunft zu führen.

Etwas mehr als neun Jahre später ist der Katzenjammer bei den Evangelikalen groß. Noch einmal wollten sie 2012 zeigen, wer den Kurs des Landes bestimmt. In ihrer Abneigung gegen Barack Obama überwanden viele Pastoren und evangelikale Funktionäre sogar ihre Vorbehalte gegenüber dem Mormonen Mitt Romney.

Diesmal ging die Rechnung nicht auf. „Ich denke, diese Wahl war ein Desaster für die Evangelikalen“, sagte der Chef der Southern Baptists, Albert Mohler. Mit Verlusten gegenüber 2008, jedoch für amerikanische Verhältnisse immer noch relativ deutlich, wurde Barack Obama im Amt bestätigt. Besonders interessant war dabei das Wahlverhalten der Evangelikalen im Vergleich zu 2004: Gewann Bush die weißen evangelikalen Wähler gegen Kerry mit 79 zu 21 Prozent, holte Romney im Vergleich zum frommen Erdbeben von 2004 sogar einen noch deutlicheren Erfolg. Wie für Bush stimmten 79 Prozent der weißen Evangelikalen für Romney, nur 20 Prozent für den schwarzen Messias aus Chicago. Dieser war für viele Evangelikale offenbar auch der beste Mobilisierungsgrund: Der Anteil der weißen Evangelikalen am Elektorat stieg im Vergleich zu 2004 sogar noch um zwei Prozentpunkte (auf 23 Prozent).

Dennoch unterlag Romney Obama fast spiegelbildlich mit dem gleichen Ergebnis, mit dem Bush Kerry besiegte. Zwei Gründe waren entscheidend: Die Schwierigkeiten der Partei unter Evangelikalen, die Minderheitengruppen angehören, sowie ein schleichender Wertewandel.

Dramatisch war der Absturz der Republikanischen Partei unter evangelikalen Latinos. 2004 schenkten noch 69 Prozent dieser etwa 15 Prozent aller Latinos ausmachenden Gruppe den Republikanern ihr Vertrauen und brachten Bush somit trotz einer Niederlage gegen Kerry unter Latino-Katholiken auf insgesamt 40 Prozent unter allen Hispanics. Romney hingegen gewann 2012 gerade einmal 39 Prozent der Latino-Evangelikalen, während 50 Prozent Obama wählten und damit zu seinem 71 Prozent-Erfolg unter Latinos maßgeblich beitrugen.

Ein ähnliches, wenn auch in den Zahlen deutlich bescheidener ausfallendes Bild ergibt sich bei schwarzen Evangelikalen. Zwar unterscheidet die Statistik hier nicht speziell zwischen Angehörigen traditioneller, protestantischer Denominationen und Evangelikalen. Dennoch ist auffällig, daß 2004 13 Prozent der schwarzen Protestanten für Bush votierten, während Romney 2012 noch ganze fünf Prozent dieser Personengruppe ihr Vertrauen schenkten.

Hinzu kommt, daß immer mehr Amerikaner sich keiner Religionsgemeinschaft mehr zuordnen. Es sind gerade diese religiös Ungebundenen, die in Rekordzahlen für Obama stimmten (70 Prozent) und deren Anteil am Elektorat im Vergleich zu 2004 um zwei Prozent zulegte. Der Anteil nichtevangelikaler weißer Christen, also Angehöriger traditioneller Denominationen, die sowohl 2004 als auch 2012 mit etwa zehn Prozent den republikanischen gegenüber dem demokratischen Kandidaten favorisierten, ging um vier Prozent zurück: ein enormer Einbruch angesichts der Tatsache, daß demographische Veränderungen sich in einem solchen Zeitraum meist nur im Bereich von einem oder zwei Prozent abspielen.

Ohne Massenmobilisierung ihrer evangelikalen Basis, die etwa 50 Prozent der Partei ausmacht, kann die „Grand Old Party“ kaum Wahlen auf nationaler Ebene gewinnen. Gleichzeitig sorgen aber gerade die Evangelikalen immer wieder dafür, die GOP bei sozialkonservativen Themen wie Abtreibung oder Homo-Ehe auf Standpunkte festzunageln, die für die Mehrheit von Unabhängigen und Wechselwählern nicht akzeptabel sind.

Demokraten haben dies vor der letzten Präsidentschaftswahl besonders in „Swing States“ wie Ohio oder Pennsylvania ausgenutzt: Wahlkampfspots warfen dem in gesellschaftlichen Fragen vormals eher als liberal wahrgenommenen Ex-Gouverneur von Massachusetts vor, einen Krieg gegen das schwache Geschlecht zu führen und neben der Rückkehr zum traditionellen Frauenbild auch gleich noch den Zugang zu Verhütungsmitteln par ordre du mufti einschränken zu wollen. Zwar hätten die Vorwürfe absurder kaum sein können, aber sie entsprachen offensichtlich einem Bild, das vor allem viele Frauen und junge Wähler von der „Grand Evangelical Party“ haben, daß es bei Wechselwählern verfing.

Die gesellschaftliche Stimmung im Land hat sich geändert. Waren im Jahr 2004 noch 60 Prozent der Amerikaner gegen eine Legalisierung der Homo-Ehe, befürworteten sie 2012 bereits 50 Prozent. Besonders unter jungen Wählern ist ein Nein zur Homo-Ehe nicht nur unpopulär, sondern ein Grund, die Partei, die solches propagiert, nicht zu wählen.

Viele junge Evangelikale, die die Homo-Ehe theologisch meist ablehnen, scheinen sich politisch damit arrangieren zu können. Auch manche evangelikale Führer haben die Zeichen der Zeit erkannt.

„In der 2000er Dekade wurde der Ausdruck ‘Evangelikaler Christ’ eher mit einer politischen Position assoziiert als mit einer theologischen“, kritisiert Megakirchen-Pastor Rick Warren. Der liberale evangelikale Autor Jonathan Merritt bringt die Stimmung der sogenannten „Millenial-Generation“ junger Evangelikaler auf den Punkt. „Heute wollen Christen nicht mehr den Kampf um einen bestimmten politischen Sachverhalt zu einem Test ihres Glaubens machen“, sagte er in Anspielung auf evangelikale Führer, die den Kampf gegen Homo-Ehe und Abtreibung zum Dreh- und Angelpunkt des Bekenntnisses machen. „Der Durst nach Macht“, so Merritt, habe den Glauben korrumpiert.

Wie die Bloggerin und erfolgreiche Buchautorin Rachel Held Evans, die in einem streng evangelikalen Umfeld aufgewachsen ist und nun eine Art links-alternatives, postevangelikales Aussteigerleben führt, stellen sich immer mehr junge Evangelikale existentielle Fragen über Gott und Gesellschaft und lassen sich nicht mehr mit den Dogmen ihrer Eltern abspeisen.

Evangelikale Grundkonstanten wie die Unfehlbarkeit der Bibel oder die Ablehnung der Evolutionslehre werden plötzlich von ihnen nicht nur hinterfragt, sondern oftmals als wissenschaftsfeindlich zurückgewiesen.

Wie für die 32jährige Evans waren für viele „Millenials“ gerade die Bush-Jahre, der scheinbare Höhepunkt der evangelikalen Bewegung, ein Erweckungserlebnis im negativen Sinn: Die enge Verschmelzung ihrer Bewegung mit den Republikanern, die darin gipfelte, zwar bei Abtreibung eine Null-Toleranz-Politik durchzusetzen, gleichzeitig aber für den Krieg im Irak zu werben, bei dem Tausende Kinder getötet wurden, war für sie unchristliche Heuchelei.

„Wir haben den Tod eines jeden abgetriebenen Babys als Verletzung der Heiligkeit menschlichen Lebens beweint und gleichzeitig den Tod irakischer Kinder als erwartbaren Kollateralschaden in einem Krieg gegen das Böse abgetan“, schreibt Evans.

Republikaner fürchten um Machtbasis

Während manche wie Evans in Abgrenzung hierzu nun bewußt die liberale Seite der Bibel betonen und Themen wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit besetzen, legt ein wachsender Prozentsatz an „Millenials“ Wert darauf, das Bewußtsein für eine grundsätzliche Trennung von Glaube und Politik zu schärfen. Ein Glaube, der weniger auf politischen Einfluß, sondern auf persönliche Lebensveränderung setzt, ist ihr ganz eigener Weg in das „religiöse Jahrhundert“ (André Malraux).

Gefährlich könnte diese Entwicklung für die Republikanische Partei werden. Manche, wie Eric Miller von der konservativen Lobby-Organisation Advance America, glauben hingegen nicht, daß eine Neupositionierung die richtige Antwort ist. Miller vertraut auf eine noch stärkere evangelikale Mobilisierung: „Wenn Kandidaten traditionelle Werte wie die Ehe zwischen Mann und Frau und den Schutz menschlichen Lebens unterstützen, werden sich Evangelikale stärker am politischen Prozeß beteiligen“, sagte Miller der JUNGEN FREIHEIT. Wenn der Kandidat zu diesen Fragen schweige, sei die Beteiligung schwächer.

Miller, der derzeit durch die Kirchen des Bundesstaats Indiana tourt, um dort Gläubige für die Verankerung der traditionellen Ehe in der Verfassung zu gewinnen, sieht in der Frage zudem kein Generationenproblem. „Der Schlüssel, damit mehr junge Leute die traditionelle Ehe unterstützen, ist, ihnen die Wahrheit über die homosexuelle Agenda zu kommunizieren mit ihrer schädlichen Wirkung auf Kinder, Familien und religiöse Freiheit.“

 

300 Millionen Evangelikale weltweit

Der Begriff Evangelikale leitet sich vom griechischen Wort evangelion ab, was übersetzt „Frohe Botschaft“ bedeutet. Evangelikale sind reformierte Christen, die ihren Ursprung maßgeblich auf die Lehren von Martin Luther und besonders Johannes Calvin zurückführen. Luthers Sola-scriptura-Prinzip folgend, räumen Evangelikale der Bibel einen hohen Stellenwert ein und versuchen ihr Leben nach biblischen Prinzipien auszurichten. Da Evangelikale glauben, daß nur eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus vor der Hölle rettet, legen sie einen starken Fokus auf Mission. Ihren Ursprung hat die Bewegung im Großbritannien und den nordamerikanischen Kolonien des frühen 18. Jahrhunderts. Weltweit gibt es nach unterschiedlichen Rechnungen etwa 300 Millionen Evangelikale. Sie machen damit etwa 15 Prozent aller Christen weltweit aus. Rund jeder vierte Evangelikale lebt in den USA, dem Land mit dem größten Anteil Evangelikaler an der Gesamtbevölkerung vor Brasilien.

Foto: Gottesdienst in einer Megachurch: Ohne Massenmobilisierung ihrer evangelikalen Basis kann die „Grand Old Party“ kaum Wahlen gewinnen

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