© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Pankraz,
Jutta Lampe und die Mikroport

Hochdramatisches begibt sich zur Zeit auf Berliner Bühnen. Nach verläßlicher Auskunft des Theaterkritikers Dirk Pilz in der Berliner Zeitung hat Claus Peymann (76), Intendant und künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles, ein Donnerwort gegen das Überhandnehmen von Mikroports im Sprechtheater gesprochen. „Die sollen mich am Arsch lecken mit ihren Mikroports“, tobte er, „das ist ja wie hundert Meter mit Propeller laufen (…) Mikroports gehören verbannt.“

Voraufgegangen waren Inszenierungen am Deutschen Theater und an der Schaubühne, bei denen üppig von Mikroports Gebrauch gemacht wurde. In einer Inszenierung von Racines „Ándromache“, so Pilz, sei ausgerechnet der großen Mimin und Genausprecherin Jutta Lampe von Regisseur Perceval ein Mikroport verpaßt worden, welches ihr Sprechen lächerlich verzögerte und verfremdete. „Während die jungen Kollegen ganz selbstverständlich die neue Technik bespielten“, habe Perceval die Lampe „einen Abgesang auf die reine Wortkunst des Literaturtheaters zelebrieren“ lassen. Das sei eine Provokation gewesen.

Mikroports sind winzige, hochempfindliche Elektrochips neuester Technik, die ursprünglich als Lautverstärker eingesetzt wurden, beispielsweise in der Musikwelt. Aber man kann mit ihnen Originaltöne mittlerweile fast nach Belieben modulieren; das sogenannte Regietheater der Sprechbühnen hat sich sofort mit Begeisterung auf sie gestürzt und erzeugt damit nun alle möglichen Sensationseffekte. Man klebt die Geräte den Schauspielern an die Wange, überschminkt sie – und schon wird der Mime „zur Sprechpuppe, die ein unberechenbarer High-Tech-Gott hoch- oder runterregelt“ (Pilz).

Die Entwicklung ist fatal, jedoch offenbar unabwendbar. Selbst „konservative“, auf Texttreue bedachte Regisseure wissen ihr manch Gutes abzugewinnen. An den Schauspielschulen, so klagen sie, werde ja kaum noch variantenreiches, viele Tonlagen beherrschendes Sprechen eingeübt, nicht einmal mehr sorgfältiges Artikulieren; wozu auch, wenn im „modernen Regietheater“ ohnehin nur noch gebrüllt oder genuschelt werden darf? Die Mikroports sorgten wenigstens dafür, daß auch hintere Ränge noch etwas vom verbalen Geschehen auf der Bühne mitbekämen.

Klarer Widerspruch kommt nur noch von den Schauspielern selbst, und zwar – wie Pankraz weiter in der Berliner Zeitung liest – ausgerechnet von den jüngeren. Bei einer kürzlichen Tagung des Wiener Max-Reinhardt-Seminars zur Krise des Theaters hätten sich gerade die jungen Schauspielstudenten mit Leidenschaft für eine unverminderte Präsenz „rein menschlicher“ Bühnensprache eingesetzt und die Verwendung von Mikroports abgelehnt.

Wacker wacker, kann man dazu nur sagen, muß freilich gleich hinzufügen: „Rein menschlich“ im Sinne individueller Modulation und Ausdruckskraft war die Bühnensprache in früheren Epochen keineswegs. An ihren Anfängen in der Antike war das Gesicht des Schauspielers voll maskiert und sein Deklamieren durch strengste Regeln festgelegt. Er sprach nicht für sich, sondern verkündete überindividuelle, ja übermenschliche, göttliche Wahrheiten.

Es waren die Tragödiendichter selbst, Sophokles, Euripides, die in ihren Stücken als „der“ Schauspieler fungierten und deshalb in der Polis höchstes Ansehen genossen. Die Mitglieder des respondierenden Chores hingegen hatten gar keine eigene Sprache, es waren schlichte Bürger, und die Musiker und die Gaukler im abschließenden Satyrspiel rekrutierten sich aus Sklaven und Freigelassenen. Und als nach dem Verfall der Tragödie in der Spätantike nur noch das Satyrspiel, die „Komödie“, auf den Theatern übrigblieb, galten die dort beschäftigten Akteure als semantische Unterklasse, die niemand ernst nahm.

Im ganzen Mittelalter blieb das so, erst mit der Wiedergeburt der Tragödie im Barock stellte sich die klassische Konstellation halbwegs wieder her: teils höchstes Ansehen, höchster sozialer Rang (der König selbst übernahm ja bei gewissen Spielen oft eine Rolle), teils Verächtlichmachung als „loses Völkchen“; von sprachlicher Artikulationskunst keine Spur. Noch in Goethes Wilhelm-Meister-Roman kann man dieses Verhältnis studieren. Die dort üppig vorkommenden Schauspieler haben an sich keinen sozialen Rang und schon gar keinen exklusiv semantischen.

Sprachliche Privilegierung von (einzelnen) Schauspielern war ein Produkt der hochbürgerlichen Genie-Ära um 1900. Zu welchen Höhen das führte, mag man etwa an den Ehrungen ermessen, die man damals etwa Josef Kainz erwies. Hugo von Hofmannsthal in seiner in Verse gefaßten Totenrede auf Kainz 1910 im Deutschen Theater Berlin: „O seine Stimme, woher tönte sie?/ Woher drang dies an unser Ohr? Wer sprach/ Mit solcher Zunge? Welcher Fürst und Dämon/ Sprach da zu uns? (…) Ein Unverwandelter in viel Verwandlungen,/ Ein nie bezauberter Bezauberer,/ Ein Ungerührter, der uns rührte, einer,/ Der fern war, da wir meinten, er sei nah.“

Heute, im Zeitalter von Film, Fernsehen und Internet, gibt es keinen solchen Stimmenlobpreis mehr, auch für größte Film- und Fernsehstars nicht. Das künstliche Bild hat vollständig über den individuell-menschlichen Ton gesiegt, zumindest im Sprechtheater; davon zeugt nicht zuletzt die obligatorische Anwesenheit einer möglichst großen Filmprojektion auch noch in der abgelegensten Bums-Aufführung. Fast möchte man glauben, die (Wieder-)Einführung künstlicher Sprache im Sprechtheater via Mikroport sei ein Versuch der Regisseure, die Sprache wieder auf Augenhöhe mit dem Bild zu bringen.

Aber wie auch immer es sich verhalten mag: Die Einführung der Mikroports ins Sprechtheater verschafft den modernen Regisseuren noch mehr Macht über die Schauspieler, als sie bisher schon haben. Sie kitzelt ihre Technik-Verliebtheit und entfernt sie noch mehr von dem, was Theater eigentlich ausmacht: die Feier dessen, was wirklich ist, in Sprache gefaßt.

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