© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Chronist der schönen Epoche
Kaffeetisch-Bücher: Die Edition Olms zeigt den französischen Schriftsteller Marcel Proust in tollen Bildern und klugen Texten
Markus Brandstetter

Für Marcel Proust ist das Jahr 1899 kein gutes. Er ist schon achtundzwanzig, wohnt aber immer noch zu Hause, hat keinen Beruf, verdient kein Geld, ist dauernd krank und schreibt seit Jahren an einem Roman, mit dem er nicht fertig wird. Aber im September dieses Jahres reist er seinen Eltern hinterher, die nach Evian gefahren sind, um dort die Wasser zu nehmen, wie man damals sagte, und da fallen ihm die Werke John Ruskins in die Hände, die Proust fesseln, begeistern und vollkommen verändern.

Dieser John Ruskin ist der führende britische Kunstkritiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Spezialist für gotische Architektur und für das Italien der Renaissance, ein Philanthrop, Mäzen, Zeichner, Gelegenheitsdichter, Naturliebhaber und Sozialreformer, ein ruhelos Reisender, der ständig zwischen London, Venedig, Frankreich, Schottland und den Alpen hin und her pendelt, ein Tausendsassa also, selbst nicht wirklich originell, aber ein großer Inspirator und Erklärer, der Generationen von Künstlern beeinflußt hat. Einer davon, und heute der prominenteste, ist Marcel Proust.

Proust lernt, die Welt mit neuen Augen zu sehen

Ruskin öffnet die Schleusen der Kreativität in Proust. Der Mann, der heute als der größte französische Romanschriftsteller nach Balzac und Flaubert gilt, der beste und scharfsinnigste Chronist der Bel Époque, der Autor, der Bilder, Charaktere und Sprachfiguren geschaffen hat, ohne die wir uns das Ende des 19. Jahrhunderts in der feinen Pariser Gesellschaft gar nicht mehr vorstellen könnten, galt bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg – und da war er schon an die vierzig – seinen vielen Freunden und Bekannten als ein unverbesserlicher Dandy, als ein kultivierter und sensibler Taugenichts, der die Millionen, die sein Vater als einer der ersten Ärzte Frankreichs verdient hatte, verpraßte. Gewiß hatte Proust einige Zeitungsartikel veröffentlicht, harmlose kleine Sachen: Skizzen, Feuilletons, Porträts, aber das war nichts Besonderes, nichts, was auf den Proust von später hindeutete.

Und dann kam Ruskin und zeigte Proust, wie man die Welt mit neuen Augen sieht. Ruskin, der seinen Zeitgenossen so groß wie Tolstoi, Nietzsche und Ibsen vorkam, ist heute vergessen, weil er ein Prediger und Plauderer war, der andauernd abschweift und um den heißen Brei herumredet. Proust jedoch hat von Ruskin gelernt, wie man Bilder und Bauwerke sehen, verstehen und interpretieren muß, wie man das, was in den Dingen schläft, durch Nachdenken und Einfühlen zum Leben erwecken kann. Prousts Biograph Jean-Yves Tadié sagt: „Proust war jemand, der immer einen Vermittler brauchte, der ihn auf den richtigen Weg bringt, hat er den aber einmal gefunden, dann wird er weiter gehen als sonst jemand.“ Ruskin war dieser Vermittler.

Hat Proust einmal intellektuell Blut geleckt, dann ist er unerbittlich und verfolgt seine Spur bis zum Ziel. Seit der Jahrhundertwende unternimmt er deshalb Ruskin-Wallfahrten zu den großen gotischen Kirchen und Kathedralen Nordfrankreichs und nach Venedig, der Ruskin-Stadt schlechthin. Proust, der auf dem besten Pariser Gymnasium seiner Zeit war, dort aber kaum Englisch gelernt hat, stürzt sich nun mit Feuereifer auf Ruskins Werke im Original, kämpft sich mit dem Lexikon durch, obwohl seine Freunde über ihn scherzen, daß er doch auf englisch nicht einmal ein Kotelett bestellen könne. Sogar die heißgeliebte Mutter wird eingespannt. Sie fertigt für ihren Sohn, der ihr nie ganz entwachsen wird, Rohübersetzungen von Ruskins Büchern an, die Proust dann am häuslichen Eßzimmertisch – sein Leben lang wird er weder einen Schreibtisch noch ein Arbeitszimmer benutzen – in der Rue de Courcelles in sein musterhaftes Französisch überträgt.

Ein Mosaik der Pariser Gesellschaft

Ruskin hat Proust nun eine Methode gegeben, den Stoff des Lebens, der sich in Prousts Gehirn seit seiner Kindheit ansammelt, zu strukturieren und in eine poetische Ordnung zu bringen. Proust hat in Zehntausenden von Stunden, die er in der Gesellschaft von Herzoginnen und Kurtisanen, Sängerinnen und Tänzerinnen, in den Salons der eleganten Welt, zusammen mit Dichtern, Komponisten, Selbstdarstellern, Börsenmaklern und Lebemännern verbracht hat, ein Mosaik der Pariser Gesellschaft angefertigt wie kein zweiter. Nun soll daraus ein Roman werden, ein Panorama mit Hunderten von Figuren und Charakteren, mit diversen Schauplätzen und Szenen und einer Handlung, die die Vorbilder hinter den literarischen Figuren gerade noch erkennen, sie aber künstlerisch doch soweit verfremdet, daß der künstlerische Effekt den einer platten Dokumentation immer übertrifft.

Der zweite Katalysator nach Ruskin ist der Tod seiner über alles geliebten Mutter im September 1905, über die Proust schreibt: „Sie trägt mein Leben mit sich hinweg.“ Ihr Tod freilich beraubt Proust auch der letzten moralischen Schranken, die er bislang noch gehabt hatte. Er wird sich nun, zumindest sich selbst und einem Kreis von Eingeweihten gegenüber, offen zu seiner Homosexualität bekennen und sie in einem Maße ausleben, daß George D. Painter, Prousts erster großer Biograph, sein Kapital darüber „Die Hölle von Sodom“ nennen und darin schreiben wird: „Während dieser Zeit seiner schrecklichen Höllenfahrt weckten lange unterdrückte und nur zeitweilig aufflackernde Impulse ein Verlangen nach Gewalt und Grausamkeit in ihm.“

Und damit haben alle Ingredienzen in Prousts Charakter, die er brauchte, um seinen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu beginnen, ihren endgültigen Mischungszustand erreicht. Von 1908 bis zu seinem Tod am 18. November 1922 wird er sowohl seine Wohnung als auch Paris kaum noch verlassen, die Nächte, an Asthma leidend, in seinem mit Kork isolierten Schlafzimmer durchschreiben, auch im Sommer nur mit Handschuhen und im Pelzmantel vor die Tür gehen – aber am Ende dieser Jahre wird ein siebenbändiger Romanzyklus abgeschlossen sein, dessen Strahlkraft von Jahr zu Jahr noch zunimmt.

Wer sich über Marcel Proust und sein Werk, über die Pariser Belle Époque und die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ informieren will, der greift am besten zu einem großformatigen Buch aus der Schweizer Edition Olms, wo er neben klugen Texten nun auch all die Bilder und Porträts findet, die Proust selbst nur in Worten gemalt hat.

Patricia Mante-Proust (Hrsg.): Marcel Proust. Sein leben in Bildern und Dokumenten. Mit Textbeiträgen von Mireille Naturel. Edition Olms, Oetwil am See/Zürich 2013, gebunden, 192 Seiten, 49,95 Euro

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