© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Die Wiedervereinigung kommt
Akademische Szenarien einer Vereinigung von Nord- und Südkorea
Albrecht Rothacher

Der erste Anschein einer betulichen Landeskunde trügt. Statt dessen legt der Sinologe und Politikwissenschaftler Martin Guan Djien Chan eine breitangelegte Studie geopolitischer Szenarien für die aus seiner Sicht früher oder später unvermeidliche, mutmaßlich unfriedliche Wiedervereinigung Koreas vor. Nordkorea sei seit dem Zweiten Weltkrieg als „gottkaiserlich geführter Staat“ organisiert. Seine Streitkräfte wurden wie seinerzeit das kaiserliche japanische Heer zur Selbstaufopferung gedrillt. Mit 17.000 Geschützen und Raketenwerfern sind sie in Frontnähe für einen Überaschungsangriff auf den Süden disloziert.

War es Kim Il-sung nach dem sino-sowjetischen Bruch von 1964 noch gelungen, die beiden Gegner mit maximalen Hilfeleistungen für seine Schwerindustrie und Rüstung gegenseitig auszuspielen, so bleibt dem Regime nach dem Ende der technologischen Unterstützung durch Rußland und China Mitte der neunziger Jahre nur noch die nukleare Erpressungspolitik für die Öl- und Nahrungsmittelversorgung. Da der Koreakrieg von 1950/53 nur noch als „Revolutionsmythos“ für die chinesische Führung taugt, ist Nordkorea heute für sie ein unnötiges, unkalkulierbares Risiko.

Ohne Quellen anzugeben, meint Chan, es gebe „Hinweise“, daß eine Wiedervereinigung unter südkoreanischer Führung für China vorstellbar sei. Da eine paktfähige Zivilgesellschaft in Nordkorea nicht existiert, hofft China auf eine reformorientierte Putschistenjunta im Norden, die diesen nach chinesischem Vorbild reformierte, um bei der langfristigen Wiedervereinigung den US-Einfluß zurückzudrängen. Im Süden geht derweil die Furcht vor den im Vergleich zu Deutschland wesentlich höheren Kosten der Wiedervereinigung um.

Chan nennt – auch hier ohne Quelle – eine Zahl von 167 Milliarden Euro jährlich, um bei einem völligen Zusammenbruch neben dem bloßen Überleben auch die medizinische und soziale Grundversorgung des Nordens sicherzustellen. Doch könnte durch einen Bürgerkrieg im Norden ein von Peking toleriertes Eingreifen des Südens schneller akut werden, als gedacht. Bei dem Wiederaufbau der Infrastruktur des Nordens könnte dann die chinesische Bauindustrie zum Zuge kommen. Auch könnten sich chinesische Staatskonzerne über Gemeinschaftsunternehmen auf Parteibefehl schnell die marode Grundstoff- und Schwerindustrie des Nordens sichern und ausbauen.

Pekings Unwillen über das Kim-Regime wächst ständig

Nordkorea könnte dann als Billiglohnland zwischen China und Südkorea reindustrialisiert werden. Während Japan in Reichweite der Rodong-Mittelstreckenraketen durch den Wegfall der militärischen Bedrohung aus Nordkorea profitieren würde, sieht Chan die USA als die strategischen Verlierer der koreanischen Wiedervereinigung: Sie würde ihre Präsenz in Ostasien „beenden“. Doch auch der Status quo sei für die USA unbefriedigend, führt doch der nordkoreanische Atomrüstungskurs mittelfristig zu ihrer nuklearen Bedrohung. Soweit kann man Chan in seinen Grundthesen folgen. Auch dürfte Pekings Unwillen über das Kim-Regime nach der Säuberung und Ermordung von Jang und seiner Pro-China-Fraktion nach Erscheinen des Buches noch weiter angewachsen sein.

Das Hauptproblem seines Buches liegt in der konsequenten Vermeidung von Quellen und Literaturhinweisen, was den Band für den Wissenschaftsgebrauch weitgehend wertlos macht. Selbst bei Handelsstatistiken weiß man nicht, woher der Autor seine Zahlen hat. Dazu sind viele seiner Thesen zweifelhaft oder schlichtweg falsch. So besteht er darauf, daß die US-Stützpunkte in Japan in Wirklichkeit solche der Vereinten Nationen seien. Ex-Premier Yasuo Fukuda war nicht der Sohn eines japanischen Botschafters in China, sondern der des Premiers Takeo Fukuda. Dazu hat Japan, im Unterschied zu anderen Nachbarn Chinas, sicher nicht „über Jahrhunderte die Weltherrschaft des chinesischen Kaisers anerkannt“.

Zur Vita von Kim Il-sung warnt der Autor zu Recht vor seiner erfundenen Heldenbiographie. Doch heftet er ihm vor Stalingrad einen Stalinorden an die Brust und befördert ihn zum Major. Tatsächlich war Kim beim sowjetischen Einmarsch in Pjöngjang nur schlichter Hauptmann. Er hatte den sicheren Fernostbezirk der Sowjetunion zu Kriegszeiten so gut wie nie verlassen.

Martin Guan Djien Chan: Korea. Gegenwart und Zukunft eines geteilten Landes. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, gebunden, 208 Seiten, Abbildungen, 24,50 Euro

Foto: Nord- und Südkoreas Staatschefs, Kim Jong-il und Kim Dae-jung, beschließen „erste Schritte“ zur Wiedervereinigung, Pjöngjang 2000: Die USA als strategische Verlierer

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