© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Der Flaneur
Auf der Stirn ein Wort
Claus-M. Wolfschlag

Entschuldigung, wissen Sie vielleicht, wo sich die urologische Praxis befindet?“ frage ich die Apothekerin. „Ja, in dem Glaskasten an der Straße“, antwortet sie. „Ah“, entfährt es mir. „Wo früher das Möbelgeschäft drin war?“ Mein Schulweg führte einst oft daran vorbei. Die Apothekerin schaut mich ratlos an: „Keine Ahnung. Habe ich noch nie gehört.“ Sie ist auch nicht mehr taufrisch, doch ich komme mir plötzlich noch viel älter vor. Als hätte ich eine der Anekdoten längst vergangener Epochen von mir gegeben, wie ich sie als Kind von meiner Großmutter gehört hatte.

Sein Gesicht verliert jeden Ausdruck. Er muß gemerkt haben, daß bei mir nichts zu holen ist.

Zehn Minuten später leitet mich eine junge Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer, und der smarte Arzt im Polohemd fragt mich nach dem Grund meines Besuchs. „Vorsorge“, sage ich. Ein wenig abtasten, auch die Prostata prüfen.

Umgehend schildert mir der Arzt detailliert ein gründliches Maßnahmenpaket, unter anderem mit Blutbildanalyse und Ultraschallanwendung auch der primären Geschlechtsmerkmale. „Die Kasse übernimmt das allerdings nicht. Das müßten Sie privat tragen“, schließt er seine Schilderung. „Äh, was kostet das denn?“ frage ich. „80 Euro“, antwortet er. Ich schlucke überrascht und rechne, wie viele Zeitungsartikel ich dafür schreiben muß. „Das ist aber viel“, sage ich.

Sein Gesicht verliert jeden Ausdruck. Er muß gemerkt haben, daß bei mir nichts zu holen ist. „Tja, für manche ist es eben viel, für andere nicht“, antwortet er. Ich frage, ob ich nicht die Untersuchung für Kassenpatienten machen könne. „Ah ja, dann machen Sie sich mal frei und beugen sich vor“, sagt er. Er streift einen Handschuh über. „Locker machen“, sagt er, dann spüre ich den Druck seines Fingers im Rektum. Zwei Sekunden später ist alles vorbei. „Da fühle ich nichts. Können sich wieder anziehen.“

Ich trolle mich unbemerkt aus der Praxis, die Sprechstundenhilfe schaut nicht mehr auf zu mir. „Kassenpatient“ scheint auf meiner Stirn zu stehen.

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