© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Pankraz,
H. M. Enzensberger und die Ansichtskarte

Lebenshilfe vom feinsten. Mit einem Zehn-Punkte-Programm wider „Ausbeutung und Überwachung“ durch Internet und Big Data hat sich jetzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Hans

Magnus Enzensberger vernehmbar gemacht, und die Regeln, die er aufstellt, klingen ungemein konkret, handfest und befolgbar, wenn auch hier und da ein bißchen utopisch. Es lohnt sich, sich mit ihnen zu befassen.

Besagte Regeln (wie gesagt, runde zehn an der Zahl) lauten folgendermaßen: 1. Handys wegschmeißen!, 2. keine „kostenlosen“ Angebote (speziell aus dem Internet) annehmen!, 3. kein Online-Banking!, 4. sich gegen die geplante Abschaffung des Bargelds wehren!, 5. nicht alles digital miteinander vernetzen!, 6. nicht dem Geschwätz der Politiker glauben, wenn es um Big Data geht!, 7. sich mit E-Mails zurückhalten!, 8. keine Waren oder Dienstleistungen via Internet bestellen!, 9. die „brüllende“ Reklame überall so gut es geht ignorieren!, 10. Facebook und andere „soziale Netzwerke“ meiden!

Wer nach einem Generalnenner für diese Regeln sucht, dem wird schnell aufgehen: Sie sind eine einzige Aufforderung zum Selbstdenken, auch zum skeptischen Innehalten. Man soll sich nie spontan einlassen auf all die brüllenden Angebote, Verabredungen, Versprechungen, die Internet & Co. bereithalten, soll immer einen „Hiatus“, eine Pause für freies eigenes Nachdenken, schaffen. Und man soll stets gesundes Mißtrauen walten lassen. Je großmäuliger und „selbstverständlicher“ eine Verheißung, um so größer die Zurückhaltung.

Es ist ein ausgesprochen aristokratischer Standpunkt im besten Sinne, den Enzensberger hier markiert, er fordert das ein, was jeder würdebewußte Mensch ohnehin tun sollte, um nicht auf tierisches, lemminghaftes Niveau abzusinken. Man läßt sich damit nur scheinbar manches entgehen, unterm Strich kommt immer Klugheit heraus. Enzensberger: „Man sollte unbedingt alles ausschlagen, was sich als Schnäppchen, Prämie oder Gratisgeschenk ausgibt. Das ist immer gelogen. Der Betrogene zahlt mit seinem Privatleben, mit seinen Daten und oft genug mit seinem Geld.“

Sehr erquicklich auch, daß Enzensberger jenen digitalen Panikmachern Paroli bietet, die neuerdings dauernd das Ende jeder individuellen Selbstbestimmung im Zeichen von Big Data verkünden. Die unermüdlich Daten sammelnden, vernetzenden und in die Zukunft ausgreifenden Algorithmen, so heißt es bei denen, seien jedem natürlichen Selbstbewußtsein haushoch überlegen, sie wüßten ja viel, viel mehr über die einzelnen Individuen, als diese selbst je von sich wissen könnten, sie würden deren Lebenslauf mathematisch exakt vorausberechnen und so eines nahen Tages den Menschen regelrecht ersetzen.

Enzensberger wischt solche Horrorvisionen in seinen „zehn Regeln“ einfach vom Tisch. „Dem Aberwitz, alle denkbaren Gebrauchsgegenstände, von der Zahnbürste bis zum Fernseher, vom Auto bis zum Kühlschrank, über das Internet zu vernetzen, ist mit einem totalen Boykott zu begegnen. Denn an den Datenschutz den mindesten Gedanken zu wenden fällt den Herstellern nicht im Traum ein. Der einzige Körperteil, an dem sie verwundbar sind, ist ihr Konto. Sie sind nur durch die Pleite zu belehren.“

Und das wäre denn wohl auch die Quintessenz der „zehn Regeln“: Man muß die aktuellen Digitalstrategen, seien es nun geldgierige Netzwerk-Produzenten oder machtgierige Geheimdienstgeneräle, schlicht pleite gehen lassen, sich ihnen auf breitester Front verweigern, sie nicht mehr ernst nehmen und sie das auch spüren lassen.

Tatsächlich ist ja niemand gezwungen, ihre Produkte zu kaufen oder sich ihren Spiegelregeln zu unterwerfen. Man braucht im Grunde jeweils nur den Stecker aus der Dose zu ziehen – aber gerade dazu gehört eben Mut. Und auch dem Mutigsten kann niemand verübeln, wenn er sich sein Handeln vorher gut überlegt, um sich durch seine Tat nicht allzusehr ins eigene Fleisch zu schneiden. Es ist ja unbestreitbar, daß Digitalität und Big Data auch eine Menge Vorteile ins Leben der Menschen gebracht haben und daß man nicht gegen Windmühlenflügel angehen sollte.

Das Mobiltelefon zum Beispiel, sowohl in seiner schlichten als auch in seiner „smarten“ Art, gegen das Enzensberger so harsch angeht, ist aus dem modernen Alltag ja nun wirklich nicht mehr wegzudenken! „Es hat ein Leben vor diesem Gerät gegeben, und die Spezies wird auch weiter existieren, wenn es wieder verschwunden ist“, schreibt er verächtlich, aber auf das Wiederverschwinden müßte er lange warten. Handy und Smartphone gehören mittlerweile zum menschlichen Leben wie Hose und Rasierapparat; es wird immer neue Modulationen von ihnen geben, doch verschwinden werden sie nicht mehr.

Ähnlich steht es mit den E-Mails. Sicherlich sind sie für jedes empfindlichere Gemüt ein Graus; Pankraz versetzt es jedesmal einen Stich, wenn er irgendwo anruft und zu hören bekommt: „Ich kann Ihnen das am Telefon nicht so ohne weiteres erklären“ oder „Das müssen wir genauer besprechen“ usw., aber dann immer: „Senden Sie doch eine E-Mail!“ Die E-Mails sind zum Totengräber nicht nur der (einst ruhmreichen) Briefkultur, sondern auch der (weniger ruhmreichen) Telefonkultur geworden. Sie sind ein Kulturverlust, aber glücklicherweise kein zusätzliches Instrument von Ausbeutung und Überwachung.

Fast rührend zu lesen, was Enzensberger an Stelle von Brief, Telefon, Smartphone und E-Mail zu benutzen empfiehlt, um vertrauliche Botschaften über weite Entfernungen zu transportieren: Es ist die gute alte Postkarte! „Wer nicht überwacht werden möchte, nehme eine Postkarte und einen Bleistift zur Hand. Handschrift ist von Automaten schwer zu lesen. Niemand vermutet auf einer Ansichtskarte, die 45 Cent kostet, wichtige Nachrichten. Man braucht also nicht zu einem toten Briefkasten zu greifen, wie er in altmodischen Spionageromanen vorkommt.“ So weit sind wir also im „Informationszeitalter“ mittlerweile gekommen.

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