© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Bildungsnotstand
Noten als Körperverletzung
Walter Oldenbürger

Es herrscht Krieg und Unterdrückung.“ Dieser Satz entstammt keiner Reportage über die jüngsten Vorgänge in der Ukraine, sondern einer Zeitschrift des rheinland-pfälzischen Landeselternbeirats. Der hatte 2008 zur Rebellion gegen die Schulnoten aufgerufen mit dem Schlachtruf „Ziffernnoten sind Körperverletzung“. Endlich schlügen die gequälten Schüler jetzt zurück. Gemeint waren jene Internet-Foren, in denen Lehrer anonym denunziert werden dürfen.

Daß der Lehrer unter Generalverdacht steht, zeigt in Rheinland-Pfalz schon die Schulordnung. Wenn ein Drittel der Schüler bei einer Arbeit nur ein „Ausreichend“ erreicht, muß sich der Lehrer einer Art Inquisitionsverfahren unterziehen. Er muß sich rechtfertigen, und die „schlecht“ Benoteten dürfen Einsprüche geltend machen. Vor dieser Drohkulisse knicken Lehrer reihenweise ein und frisieren den Notenspiegel.

Je nach Bundesland gibt es ähnliche Abschreckungsparagraphen. Die schlechte Note ist längst Beweis für den schlechten Lehrer, der den Schüler in seiner „Individualität“ nicht hinreichend zu fördern wußte. „Individualisierung“, ein Totschlagwort, suggeriert die Existenz einer Wohlfühlgesellschaft, in der Klein Fritzchen schon in der Schule darauf vorbereitet werden soll, daß er später keine vergleichbare, sondern eine individuelle Leistung bringen muß.

Die Rahmenbedingungen wurden inzwischen so gestaltet, daß ein Lehrer die Stichhaltigkeit seiner Note kaum noch beweisen kann. So haben rheinland-pfälzische Lehrer eine Handreichung erhalten, die wohl nur noch als Ratgeber zur Notenbekämpfung gelesen werden kann:

Eine schlechte Note wegen schlechter Hausaufgaben? Die sei unmöglich, da Hausaufgaben nicht vorrangig dazu da seien, als Grundlage für die Leistungsbewertung zu dienen. Eine schlechte Note wegen nicht gemachter Hausaufgaben? Die sei natürlich auch nicht statthaft. Schließlich sei die Leistung eines Schülers zu bewerten, nicht seine Nichtleistung.

Für unbelehrbare Lehrer hält das Mainzer Kultusministerium unter dem Kunstwort Heko („Heterogenität konkret“) jetzt eine neue Daumenschraube bereit, die heterogenitätskonforme Schonraumnote: Die Schüler sollen künftig „individuell“ entscheiden, ob sie bei Klausuren die leichtere oder schwerere Aufgabenvariante bevorzugen. Auf der Welle des Notendumping schwimmt Rheinland-Pfalz ganz oben mit. Was im Abitur geprüft wird, bestimmt hier noch jeder Lehrer in Eigenregie.

Daß jedoch auch das Zentralabitur auf Dumpingniveau veranstaltet werden kann, ist bewiesen. Untersuchungen von Hans Peter Klein, Professor an der Universität Frankfurt, haben gezeigt, daß Neuntkläßler NRW-Abituraufgaben im Fach Biologie problemlos lösen konnten. In Mathematik war mathematisches Vorwissen sogar „eher hinderlich“ (Klein).

Unter dem Etikett „Chancengerechtigkeit“ können NRW-Schulen mittlerweile selbst entscheiden, ob sie bei Lernstandserhebungen der Mittelstufe die Rechtschreibfähigkeit überhaupt noch berücksichtigen. In Sachsen-Anhalt sollen künftig nicht mehr 51, sondern 40 Prozent der möglichen Gesamtleistung genügen, um ein „Ausreichend“ zu erhalten. Und an Hamburgs Stadtteilschulen erhalten Schüler keine eindeutigen Ziffernnoten mehr.

Nicht von ungefähr ist der angestellte und daher kündbare, einheitlich mäßig bezahlte, leicht dirigierbare, mäßig qualifizierte Einheitslehrer, den man jederzeit unter Notendruck setzen kann, das sozialdemokratische Lehrerideal.

Fehlt nur noch die Abschaffung des „Sitzenbleibens“, das die rot-grünen Bildungsverbesserer zum Weltuntergangsszenario stilisiert haben. Das Drama des minderbegabten, zwangsversetzten Kindes, das dem Lernstoff nicht mehr folgen kann, wird in der schönen neuen Welt des sozialistischen Aufbruchs „zur Sonne, zur Freiheit“ tunlichst totgeschwiegen.

Dabei ist das Sitzenbleiben in Deutschland de facto längst Vergangenheit. Die Durchfallquote tendiert bundesweit gegen null. So geht es in Rheinland-Pfalz auch nur noch darum, mit populistischem Getöse jene 1,7 Prozent ins neue Schuljahr zu hieven, die nach dem Urteil ihrer Lehrer besser einen Neustart wagen sollten.

Selbst Deutschlands Lehrerorganisationen sind mittlerweile weichgekocht und wenden sich gegen das „Selektionssystem“. Der Philologenverband droht beim Thema Sitzenbleiben ähnlich umzufallen wie bei der Einführung der verunglückten Rechtschreibreform. Der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende gilt wohl bereits als Widerstandskämpfer, wenn er kleinlaut bekennt, sein Verband halte es „nicht für sinnvoll, das Sitzenbleiben gänzlich abzuschaffen“.

Die Kultusministerkonferenz hat vor zehn Jahren „Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluß“ (Realschule) festgelegt. Zehn Jahre Bildungsdumping haben ihre Spuren hinterlassen. Legte man diese Standards zugrunde, so hätte mancher Studienrat heute kaum eine Chance, auch nur den Realschulabschluß zu erreichen. Eine Untersuchung des Germanisten Gerhard Wolf von der Universität Bayreuth ergab: Der aktive Wortschatz heutiger Studenten „schrumpft auf wenige hundert Ausdrücke“. „Das Wagnis, ein komplexeres Satzbaugefüge zu bilden, endet regelmäßig in peinlichen Niederlagen.“ „Konjunktive schwinden aus den schriftlichen Arbeiten.“ Viele Studenten wüßten die Tempora nicht mehr richtig zu bilden. Es sei ihnen kaum möglich, „eigene Gedanken auszudrücken oder Argumente vorzubringen“. Als kompetenter Notengeber ist mancher Lehrer mittlerweile schlichtweg überfordert.

Um im nationalen Ranking besser dazustehen, hatten US-Lehrer 2010/11 bei der Auswertung der Leistungstests ihrer Schüler in großem Stil gefälscht. Das 2002 erlassene Gesetz „No Child Left Behind“ hatte damals einen „Leistungsschub“ bewirkt, wie ihn sich wohl auch die Bildungsreformer Deutschlands erträumen. Nicht von ungefähr ist der kündbare (angestellte), einheitlich mäßig bezahlte, leicht dirigierbare, mäßig qualifizierte Einheitslehrer, den man jederzeit unter Notendruck setzen kann, das sozialdemokratische Lehrerideal.

Heute ist die Bestnoteninflation so weit fortgeschritten, daß Universitätsnoten weitgehend wertlos erscheinen. Eine Masterarbeit oder Dissertation im Fach Biologie etwa wird heute bei „fast allen Studenten mit einer 1 benotet“, so Axel Meyer, Professor an der Fakultät für Biologie, Konstanz. Meyers Appell an seine Kollegen, doch endlich wieder Noten zu vergeben, die „etwas zählen“, wirkt freilich wie das sattsam bekannte „Haltet den Dieb“.

Die Zahl der Einser-Abiturienten erhöht sich ständig. Universitäten und Handwerk beklagen, daß die bestens Benoteten immer weniger wissen und können. Eine solche Verringerung der Anforderungen gab es zuletzt in den dreißiger Jahren.

So feiern Schulen und Hochschulen immer neue Pyrrhussiege an der Bildungsfront. Inflationäre Spitzenexamina und Jubelabiture hängen dabei eng zusammen. Für die Dumping-Inhaber eines „Spitzenabiturs“ halten die Kultusministerien nämlich häufig auch noch den passenden Schmalspur-Studiengang bereit. Zum Beispiel eine Master-Ausbildung für das Lehramt an Gymnasium mit der Phantasiebezeichnung „Philosophie/Ethik“ (Landau). Die kann nicht nur ohne Latinum (oder gar Graecum) absolviert werden, sondern auch ohne Vorlage eines Abiturzeugnisses.

So erweist sich der Bildungsabbau als Teufelskreis, als selbstreferentielles System, in dem das defizitäre Opfer des Notendumpings selbst zum arglosen Täter wird und der Niveauverlust zum konstitutiven Strukturproblem. Die Zahl der Abiturienten mit der Traumnote 1,0 erhöht sich von Jahr zu Jahr. Universitäten, Handwerk und Mittelstand aber beklagen, daß die meist bestens Benoteten immer weniger wissen und können. Eine solche Verringerung der Abituranforderungen gab es früher allenfalls beim Weltkriegs-„Notabitur“ und bei den Abiturprüfungen der NS-„Eliteschulen“.

Eine Schule ohne Noten, ohne Sitzenbleiber, ohne „Selektion“, ohne Klassen und sogar ohne Fächer – die aktuellen Forderungen des Talkshow-Philosophen Richard David Precht lesen sich wie eine Mixtur sattsam bekannter Stereotypen. Precht liebäugelt wieder mit der Jenaplan-Schule, deren Begründer überzeugter Nationalsozialist war. Individualisierung verträgt sich für Precht offenbar problemlos mit der Etablierung eines totalitären Bildungssystems mit Kindergartenzwang und obligatorischer Ganztagsschule. „Lernhausleiter“ sollen den „schädlichen Einfluß mancher Elternhäuser“ verhindern. Eine solch staatsdirigistische Totalvereinnahmung kannte man zuletzt aus der NS-Diktatur. Prechts wohlfeile Kritik an der sinnlosen „Bulimielernerei“ wurde bereits 1938 von Hitler als „Einpumpen bloßen Wissens“ angeprangert.

„Es steht uns ein Bildungsnotstand bevor, den sich nur wenige vorstellen können.“ Georg Pichts Warnung von 1964 ist heute wieder aktuell. Nur ist 50 Jahre später an die Stelle des Mädchenmangels die „Jungenkatstrophe“ getreten – und an die Stelle des eklatanten Abiturientenmangels die wundersame Abiturientenvermehrung.

Daß das System der schulischen Notengebung kollabiert, liegt an den Obstruktionsmaßnahmen sendungsbewußter „Reformer“, die den Lehrern die Rolle des Prügelknaben zugewiesen haben, auf dessen Rücken der neue Bildungskampf jetzt offenbar ausgetragen werden soll.

Die Körperverletzten dieses Kampfes sind freilich nicht Schüler, sondern Lehrer wie Rudolf B., der 2010 in Ludwigshafen mit einem Kampfmesser erstochen wurde. Ein Schüler hatte sich ungerecht benotet gefühlt.

Der „Notenkrieg“ hat viele deutsche Lehrerzimmer längst erfaßt. Die gerechte Note ist nun ein Nachteil im „Wettbewerb mit der Nachbarschule“, die gute Note hingegen nervenschonend, beförderungsdienlich und weltverbessernd.

Ob „Individualisierung“, „Kompetenzorientierung“ oder „Inklusion“ – meist geht es den Reformern nur darum, mit immer neuen Begriffen das Leistungssystem so nachhaltig auszubremsen, daß der Langsamste das Lerntempo bestimmt.

Bevor der bundesweite „Systemwechsel“ (Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD) zur grenzenlos nivellierten „Gemeinschaftsschule“ endgültig Realität geworden ist, gilt es, die Reißleine zu ziehen und aus dem geschlossenen System des Leistungsabbaus auszusteigen. Als Sofortmaßnahme einen Schlußstrich zu ziehen: dazu fähig wären wohl allenfalls noch die Universitäten. Von Externen konzipierte Aufnahmetests könnten verhindern, daß Lehramtsstudenten einen Beruf ergreifen, in dem sie später – bewußt oder unbewußt – nur als „Notendumper“ überleben können.

 

Walter Oldenbürger, Jahrgang 1956, unterrichtet an einem rheinland-pfälzischen Gymnasium. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Katholischen Religion sowie einer Ausbildung zum Wirtschaftsassistenten arbeitete er im Presse- und PR-Bereich. Oldenbürger ist Mitglied im Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege.

Foto: Schulzeugnis: Mit Bestnoteninflation zu immer neuen Pyrrhussiegen im Bildungssektor

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