© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Wenn Volk und Heimat ohnehin belanglos sind
Ein „legitimationswissenschaftlicher“ Blick auf den ordnungspolitischen Völkerkundler Max Hildebert Boehm
Karlheinz Weissmann

Der Name Max Hildebert Boehm wird heute kaum jemandem etwas sagen. Auch zu seinen Lebzeiten, zwischen 1891 und 1968, war das nicht anders. Jenseits von wissenschaftlicher Volkskunde, Völkerkunde, Soziologie und Geschichte und außerhalb der rechtsintellektuellen Szene der Weimarer Republik oder der restkonservativen Zirkel der frühen Bundesrepublik kannte man ihn nicht. Das ist natürlich kein Einwand gegen eine Monographie, die sich mit Leben und Werk befaßt, aber doch ein erster Vorbehalt angesichts der fast sechshundert Seiten, die die Arbeit von Ulrich Prehn umfaßt.

Der Autor beschäftigt sich in aller Ausführlichkeit – trotz der teilweise sehr schmalen Quellenbasis – mit der deutschbaltischen Herkunft Boehms, der Übersiedlung in Kindertagen aus Livland nach Lothringen, dem Studium und der Aktivität für die deutsche Propaganda während des Ersten Weltkriegs. Demgegenüber erscheint die Darstellung der entscheidenden Jahre, in denen Boehm enge Verbindungen zu Arthur Moeller van den Bruck und der jungkonservativen „Ring“-Bewegung aufbaute, merkwürdig blaß. Weder erfährt man hier Neues über die Genese noch über die Entwicklung jener zentralen Ideen, die eben nicht unter dem Eindruck von Zusammenbruch und Versailler Vertrag entstanden, sondern schon im „Augusterlebnis“ von 1914 wurzelten und angesichts der deutschen Lage zwischen Ost und West die Sehnsucht nach dritten Wegen und dritten Reichen förderten.

Den Hauptgrund für diese und andere Schwächen der Arbeit Prehns hat man in einem ausgesprochenen Desinteresse an den historischen Aspekten seines Gegenstands und einem Nicht-verstehen-Wollen der Motive des Hauptakteurs zu suchen. Wer überall nur Konstruktion wittert, kann selbstverständlich keinen Blick auf die Zeiten und Menschen werfen, dem erscheinen geschichtliche Bedingungen und Zwänge ebenso unwirklich wie die Erfahrungen, Überzeugungen und Leidenschaften, die zu Handlungen treiben.

So kommt es nicht nur dahin, daß Prehn die Wichtigkeit der biographisch bedingten „Grenzland“-Erfahrung Boehms für dessen intellektuelle Entwicklung leugnet, sondern auch dessen Denkansatz – die Theorie des „eigenständigen Volkes“ – als belanglos abtut, weil eben weder „Heimat“ noch „Volk“ Realitäten seien. Letztlich geht es dem Autor nur darum, seine offenbar vorgefaßte Meinung bestätigt zu finden: daß nämlich Boehm als Ideologe wie als Aktivist der „Deutschtums“-Bewegung wie als Hochschullehrer (er war zwischen 1933 und 1945 Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie in Jena) wie als Politikberater nur eines im Sinn hatte: die Durchsetzung eines „radikalen Ordnungsdenkens“.

Wenn Prehn sich die Mühe gemacht hätte, die Vorschläge Boehms für die Gestaltung des Nationalitätenrechts und des Minderheitenschutzes vor dem Hintergrund der Situationen zu sehen und zu werten, in denen sie entstanden und vorgetragen wurden, wäre ihm vielleicht aufgegangen, daß sie im Zeithorizont kaum „radikal“, sondern ausgesprochen gemäßigt erschienen: von der Idee, Polen und das Baltikum unter deutsche Hegemonie zu stellen, ohne daraus das Recht zur Assimilierung abzuleiten, über die Vorschläge für eine Reorganisation Mitteleuropas nach dem Prinzip kultureller Autonomie in der Zwischenkriegszeit, die explizite Ablehnung des „biologischen Mordes“ an als minderwertig angesehenen Volksgruppen, den Vorschlag, das „Neue Europa“ nach dem Muster des alten Reiches zu ordnen, bis zu den Bemühungen der Nachkriegszeit, in Reaktion auf die furchtbaren Massenvertreibungen ein angemessenes Verständnis von Heimatrecht zu entwickeln.

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Diese Einschätzung gilt im übrigen auch für Boehms Vorschläge zur „Dissimilation“ von Juden und Deutschen. Dem heutigen Leser mag der Opportunismus Boehms in den Jahren 1933/34 wie die Wortwahl und die Begründung unsäglich erscheinen, aber anders als Prehn behauptet, war die „jüdische Frage“ als solche keine Erfindung von Antisemiten, sondern eine Tatsache, die auch und gerade von jüdischer Seite anerkannt wurde. Jeder noch so oberflächliche Blick auf den Zionismus belehrt darüber, daß dessen Ziel in nichts anderem bestand als der Trennung von Juden und Nichtjuden, der Vorstellung einer scharf umrissenen, auch und gerade ethnisch gemeinten Identität des Judentums und der Überzeugung, daß diese nur durch die Anwendung autoritativer Mittel erhalten werden könne.

Die Verzeichnungen, die sich bei Prehn gerade in bezug auf dieses Thema zeigen, stellen noch einmal klar, wie weit wir von jeder „Historisierung“ nicht nur des Nationalsozialismus, sondern der deutschen Zeitgeschichte überhaupt entfernt sind. Tonangebend ist eine moralisierende und pädagogisierende Betrachtungsweise, die unter Hinweis auf die Methode Kleinigkeiten zu Monstrositäten aufbläst und Selbstverständlichkeiten hinter Begriffsungetümen verbirgt. Daß das alles nicht ohne politische Hinterabsicht geschieht, sondern dem antifaschistischen Konsens dient, liegt auf der Hand, und der Vorwurf Prehns, ein Mann wie Boehm habe „Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft“ betrieben, trifft – und zwar ihn selbst.

Ulrich Prehn: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2013, gebunden, 576 Seiten, 42 Euro

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