© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Die Reform frißt ihre Kinder
Inklusion: Unsere einst weltweit vorbildlichen Schulen werden mit praxisfernen Ideen ruiniert
Konrad Adam

Das deutsche Schulwesen, einst Vorbild für alle Welt, ist nicht nur auf einem, sondern auf vielen Wegen ruiniert worden; und jedesmal mit durchschlagendem Erfolg.

Der erste Weg führte über die Integration und zielte darauf ab, das überkommene, vielfach gegliederte Schulsystem durch einen einheitlichen Typ, die integrierte Gesamtschule, zu ersetzen. Der zweite bediente sich der Immigration, der Einwanderung von Fremdstämmigen, und lief darauf hinaus, den verbindlichen Gebrauch des Deutschen zugunsten eines Unterrichts in allen möglichen Muttersprachen einzuschränken. Der dritte und einstweilen letzte Weg läuft über die Inklusion und verlangt, behinderte und nichtbehinderte Kinder in sämtlichen Fächern gemeinsam zu unterrichten. Wie seine Vorläufer ist der Ruf nach Inklusion ein Erzeugnis der Theorie, nicht der Praxis. Er dient dazu, Schul-, Lern- und Bildungsforschern Aufträge und einer ahnungslosen Kultusbürokratie Vorwände zu verschaffen, die ohnehin schon leidgeprüfte deutsche Schule mit weiteren Reformen vollends zu überfrachten.

Das Inklusionsprogramm liefert das allerneueste Beispiel für die bösen, zumindest unerwünschten Folgen einer ursprünglich guten Idee. Wie alle anderen Reformen, mit denen die deutsche Schule pausenlos traktiert worden ist, raubt ihr die flächendeckende Inklusion das, was sie vor allem braucht, um ihren Auftrag zu erfüllen: Dauer, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit; Schulfrieden also. An dem ist einem Bildungsfachmann genausowenig gelegen wie einem Bildungsminister; beide wollen sich durch Reformen hervortun und die Schule alle paar Jahre, wie es dann regelmäßig heißt, neu erfinden: als ob es sie nicht längst schon gäbe! Politiker und Wissenschaftler wollen dem Fortschritt dienen, und zwar auch dann, wenn es den Fortschritt gar nicht gibt und auch nicht geben soll, weil sich über guten und schlechten Unterricht nicht viel Neues sagen läßt.

Es waren Bildungsforscher, die uns erzählt haben, der Unterricht müsse mal lehrer-, mal schüler-, mal wissenschafts- und mal lernzielorientiert ablaufen. Sie wollten das Einschulungsalter, das aus guten Gründen seit eh und je bei sechs Jahren liegt, einmal auf fünf Jahre herab- und dann wieder auf sieben Jahre heraufsetzen. Die ersten Schulen hatten noch keine Erfahrungen mit dem Vorhaben gesammelt, die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre zu verkürzen, als Bildungsplaner die Rückkehr zum G9 verlangten. Die Koedukation, das gemeinsame Lernen von Jungen und Mädchen, ist von ihnen ebenso vehement gefordert wie bekämpft worden, immer im Namen „der“ Wissenschaft, auf die sie sich beriefen, als ob sie ihre Tante wäre.

Abgesehen von Allerweltsweisheiten hat diese Tante aber nichts zu bieten. Statt ihr das immer wieder vorzuhalten, wollen wir sie selbst einmal zu Wort kommen lassen, und zwar in Gestalt einer Lehrstuhlinhaberin für Hochschuldidaktik. Als wichtiges Ergebnis ihrer Forschungstätigkeit mahnt diese Frau zur Übermittlung bedeutungsvoller Inhalte, „da das Lernen von bedeutungsvollen dem von sinnfreien Inhalten überlegen ist“. Was man wohl seinerseits als Musterbeispiel für die Vermittlung eines sinnfreien Inhalts betrachten darf.

Nun also die Inklusion als jüngster Modeartikel im Warenkatalog einer fortschrittstrunkenen Erziehungstheorie. Mehr für diejenigen zu tun, die weniger mitbrachten, war seinerzeit ein menschenfreundliches und überfälliges Programm. In seinem Namen sind im ganzen Land mit erheblichem Aufwand Hunderte von Sonderschulen errichtet worden, die später dann, als der Zeitgeist gewechselt hatte, in Förderschulen umbenannt wurden. Das alles ist jetzt für die Katz, weil ein unterbeschäftigter, aber überbezahlter Pädagoge auf die Idee gekommen ist, einen Fortschritt zu propagieren, der keiner ist.

Die Folgen sind grotesk. Sie zeigen sich beim Geographieunterricht, in dem keine Landkarten, sondern nur dreidimensionale, manuell ertastbare Modelle verwendet werden dürfen, weil ein sehbehindertes Kind unter den Schülern ist. Dieselben Klassenräume, die aus Geldmangel nicht mehr saubergehalten werden können, werden unter erheblichen Kosten mit schallschluckenden Deckenkonstruktionen versehen, um auch hörgeschädigte Kinder am gemeinsamen Unterricht teilnehmen zu lassen. Und Schulgebäude, deren Toiletten jeder Beschreibung spotten, werden vorsichtshalber mit Aufzügen ausgerüstet, die von den meisten Schülern nie benutzt werden dürfen.

All das wäre zu verstehen, vielleicht auch zu begrüßen, wenn es dem erklärten Ziel, der Inklusion, denn tatsächlich zugute käme. Dem ist jedoch nicht so: vor allem deshalb nicht, weil Bauingenieure und Bildungsbürokraten von Gruppendynamik wenig oder nichts verstehen. Sonst wüßten sie nämlich, daß die technisch aufwendige Zuwendung, die sie behinderten Schülern zuteil werden lassen, eben nicht ein-, sondern ausschließt. Und zwar auf beiden Seiten, also nicht nur aus der Perspektive der Regelschüler, sondern auch aus Sicht der Begünstigten selbst. Kinder wollen dazugehören und reagieren empfindlich auf alles, was nach Besonderheit riecht. Genau die tritt aber um so deutlicher hervor, je größer der Aufwand ist, der in ihrem Namen getrieben wird.

Doch das Millionenspiel wird weitergehen, so lange, bis die Reform unter ebenso großem Aufwand, wie ihre Einführung gekostet hat, wieder abgeschafft wird. Gerechterweise wäre natürlich anzumerken, daß Bildungsforschern hier und da auch mal ein Treffer gelingt. So etwa die Erkenntnis, daß gute Schulen gute Lehrer beschäftigen, gute Lehrer guten Unterricht machen und guter Unterricht gute Schüler hervorbringt: „Auf den Lehrer kommt es an!“ hieß die triumphale Erkenntnis, mit der die Pisa-Studien hervorgetreten sind. Das ist gewiß nicht falsch; aber hätten wir diese Einsicht nicht etwas billiger haben können?

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