© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

„Rußland fühlt sich düpiert“
Putin greift nach der Krim. Doch wer trägt Schuld an dem Konflikt? Haben wir Moskau provoziert? Wie gefährlich ist Rußland? Der Sicherheitsexperte Carlo Masala antwortet.
Moritz Schwarz

Herr Professor Masala, ist die Krim-Krise mit dem Referendum am Sonntag zu Ende?

Masala: Wohl kaum, der Westen wird auch bei einer Mehrheit für Rußland den Krim-Anschluß nicht akzeptieren.

Und dann?

Masala: Dann hätten wir eine Situation wie auf Zypern, wo sich der Norden 1974 unter dem Schutz Ankaras abgespalten hat. Und obwohl niemand – außer der Türkei – Nordzypern anerkennt, ist es de facto von Zypern getrennt.

Was, wenn die Russen die Abstimmung verlieren?

Masala: Auch dann sehe ich kein Ende, Moskau würde die Besetzung der Krim wohl unter Vorwänden aufrechterhalten.

Droht also ein neuer Kalter Krieg?

Masala: Nein, dafür gibt es zu viele Gebiete, auf denen ein Interesse an Zusammenarbeit mit Rußland besteht.

Zum Beispiel?

Masala: Syrien, Iran, die Post-Afghanistan-Situation, das Erdgas. Es wird eine kurze Eiszeit geben, dann beginnt wieder die Zusammenarbeit. Allerdings, das Verhältnis bleibt wohl von Rivalität geprägt, aber eine strukturelle Polarisierung wie im Kalten Krieg wird nicht zurückkehren.

Ist Rußland eine Gefahr für Deutschland?

Masala: Nein.

Heute die Ukraine – morgen Mitteleuropa.

Masala: Es geht Putin nicht um Mitteleuropa, sondern um die Absicherung der russischen Interessenssphäre an seiner Peripherie.

Angeblich will er an die Macht der UdSSR anknüpfen – die zielte auf Westeuropa!

Masala: Putin geht es um Geo- und nicht um Ordnungspolitik. Es gibt keine ideologische System-, sondern nur eine nüchterne Machtkonfrontation.

Putins Rußland steht für Familie, Kirche, Vaterland, der Westen für Individualismus, Multikulturalismus und Genderisierung.

Masala: Dieser Gegensatz existiert, ist aber für den gegenwärtigen Machtkonflikt irrelevant. Zwar ärgert es die Russen, wenn der Westen sie wegen mangelnder Zivilgesellschaft an den Pranger stellt, aber das ist kein „Leitmotiv“ ihrer Machtpolitik.

Folgt Putin vielleicht der panrussischen Idee der „Sammlung russischer Erde“?

Masala: Nachdem sie in den neunziger Jahren etwas in der Versenkung verschwunden war, wird die panrussische Idee in politischen einflußreichen Kreisen nun in der Tat wieder mitunter diskutiert. Putins Politik ist allerdings von dieser Idee nicht geleitet.

In Rußlands Nachbarländern geht offenbar bereits die nackte Angst um. Litauens Präsidentin warnt, werde Putin nicht gestoppt, könnten bald weitere Länder folgen.

Masala: Diese Angst ist historisch verständlich, aber wäre Putin ein solcher Weltanschauungspolitiker, hätte er auch Estland gedroht, wo nach der Russifizierung der Sowjetzeit heute etwa 25 Prozent der Bevölkerung russisch sind. Nein, bis jetzt deutet nichts darauf hin, daß die Ukraine nur ein Auftakt wäre.

Sondern? Was hat den Konflikt ausgelöst?

Masala: Es handelt sich um eine hegemoniale Auseinandersetzung zwischen Rußland und dem Westen. Moskau konnte in der Frage des EU-Assoziierungsabkommens Brüssel den Rang ablaufen. Das provozierte den Protest der ukrainischen Opposition, die vom Westen flankierte wurde. Schließlich wurde Präsident Janukowitsch aus dem Amt gejagt. Damit verlor Moskau seinen Einfluß und fühlte sich düpiert.

Sprich, wer ist schuld?

Masala: Von Schuld will ich nicht sprechen. Aber der zweite große alte Mann der US-Geopolitik neben Henry Kissinger, der ehemalige Carter-Berater Zbigniew Brzeziński, schrieb einmal, wenn Rußland die Ukraine verliere, sei jeder Versuch, als Großmacht wieder auf die Beine zu kommen, gescheitert. Und das sehen die Russen genauso. Ihnen gilt die Ukraine als ihr strategisches Vorfeld.

Sie wollen sagen, es war falsch, die Ukraine mit der EU zu assoziieren?

Masala: Von richtig und falsch spreche ich nicht. Ich spreche lieber von Resultaten. Und Resultat ist, daß wir nun in einer extrem spannungsgeladenen Auseinandersetzung mit den Russen stehen.

Das heißt, vom geopolitischen Standpunkt aus haben wir Rußland provoziert?

Masala: Man muß verstehen, daß der Westen sich selbst meist nicht als Handelnden sieht, sondern nach eigenem Verständnis nur auf das Ansinnen anderer reagiert, hier etwa auf das Interesse vieler Ukrainer an einem Assoziierungsabkommen. Aus der Außensicht, in diesem Falle der russischen, weitet der Westen damit aber seine Einflußsphäre aus.

Aber die Ukraine hat doch das Recht, sich mit der EU zu assoziieren.

Masala: Natürlich hat sie das. Es geht aber darum, daß wir gegenüber Rußland propagieren, ein Denken in Einflußsphären sei im 21. Jahrhundert nicht mehr adäquat – während es gleichzeitig erlebt, daß wir unsere eigene Einflußsphäre beständig erweitern. Heute führen wir die Ukraine an die EU heran, in fünf Jahren bekommt Kiew dann möglicherweise den Membership-Action-Plan der Nato und in zehn Jahren ist die Ukraine vielleicht Vollmitglied.

Wie verantwortungsbewußt war es, die Ukraine Richtung EU zu locken, wohl- wissend, daß man im Fall des Falles dem Land keinen Schutz gewähren kann?

Masala: Die Frage beantwortet sich von selbst: Das war alles, nur nicht verantwortungsbewußt.

Also hat die EU mit dem Feuer gespielt – und den Preis zahlt nun die Ukraine?

Masala: So können Sie das sagen.

Hat Rußland ein Anrecht auf die Krim?

Masala: Völkerrechtlich nicht.

Allerdings wurde diese 1954 vom sowjetischen Diktator Nikita Chruschtschow an die Ukraine verschenkt. Hat solch ein Willkürakt denn bindende Wirkung?

Masala: Das Völkerrecht fragt nicht in erster Linie, ob eine Situation gerechtfertigt ist, sondern sichert den Status quo, weil es Kriege verhindern will.

Der österreichische „Standard“ schreibt: „Völlig illegitim ist der russische Anspruch nicht, die Krim hat eine russische Bevölkerungsmehrheit.“

Masala: Und doch hat sich Putin mit seiner Aggression ins Unrecht gesetzt, denn Moskau hat sowohl die Helsinki-Schlußakte von 1975 unterschrieben, die die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa garantiert und zur friedlichen Regelung von Streitfällen verpflichtet, wie auch das Budapester Memorandum von 1994, das als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und Grenzen der Ukraine garantiert.

Mit Blick auf den möglichen Erfolg der Russen beim Referendum am Sonntag schreibt der niederländische „Volkskrant“: „Anders als westliche Führer behaupten, stellt eine Unabhängigkeitserklärung der Krim keine Verletzung des Rechts dar. Es gibt keine Rechtsvorschrift, die es Bewohnern eines Staates verbietet, sich von diesem abzuspalten. Das Völkerrecht ist gegenüber dem Separatismus neutral.“

Masala: Ich bin kein Völkerrechtler, aber am Ende ist es eine politische Frage. Keiner kann Ihnen erklären, warum viele westliche Staaten das Kosovo oder den Südsudan anerkannt haben, Nordzypern aber nicht. Ob eine Sezession unterstützt wird, ist eine Frage, die mehr von Interessen abhängt als von völkerrechtlichen Prinzipien. Realiter ist das Völkerrecht sowieso nur für die „Kleinen“ da.

Klingt nach Machiavelli.

Masala: Klingt nach der Realität: Wann immer das Völkerrecht gegen die Interessen der Großmächte stand, wurde es gebrochen, von allen Großmächten.

„Man benimmt man sich nicht wie im 19. Jahrhundert und marschiert unter erfundenem Vorwand in andere Länder ein“, so US-Außenminister John Kerry empört.

Masala: Das ist natürlich Theater, Kerry weiß sehr gut, daß die USA 2003 im Irak genau das selbst getan haben.

Warum argumentiert Kerry dann so?

Masala: Das ist „public diplomacy“: Gelingt es, Rußland wegen Völkerrechtsbruch an den Pranger zu stellen, kann der Fall vor den UN-Sicherheitsrat gebracht werden, ganz egal ob man vor zehn Jahren den gleichen Rechtsbruch selbst begangen hat.

Andererseits: Ist es wirklich in gleicher Weise imperial, wenn Rußland an einer strategischen Position seiner Peripherie einmarschiert, wie wenn der Westen dies in Ländern am anderen Ende der Welt tut?

Masala: Ihre Frage beinhaltet eine Wertung – und aus Sicht Ihres Wertmaßstabes haben Sie mit Ihrer impliziten Kritik auch recht. Allerdings: Man muß weder die Sicht Rußlands noch der USA teilen, aber man sollte sie verstehen. Die USA sehen sich selbst als globale Macht und betrachten deshalb nicht nur ihre Peripherie, sondern den gesamten Globus als ihr strategisches Vorfeld.

Wenn beide dem gleichen Imperativ folgen, warum ist Rußland dann eine „aggressive Großmacht“, die USA aber weiter ein „guter Partner“?

Masala: Ich verstehe Ihre moralische Fragestellung, aber damit werden Sie den Konflikt nicht erfassen. Natürlich wäre der Teufel los, wenn Rußland im Gegenzug versuchen würde, etwa Mexiko aus dem Einflußbereich der USA herauszulösen. Aber solche Vergleiche bringen keinen Erkenntnisgewinn. Erkenntnisgewinn bringt zu verstehen: Wer hat welche Interessen und welche Mittel sie durchzusetzen?

Rußland beklagt, es werde vom Westen eingekreist. Ist da was dran?

Masala: Es sei dahingestellt, ob es sich bei der „Einkreisung“ um eine westliche Strategie oder eine russische Phobie handelt, entscheidend ist, daß Rußland das so wahrnimmt. Allerdings stimmt, daß die USA auch deshalb etwa in Afghanistan bleiben wollen, weil sie von dort nicht nur nach Pakistan hineinhorchen können, sondern auch nach Rußland. Rußland hat seinerzeit übrigens den USA geholfen, Stationierungsrechte in den Ländern südlich Rußlands zu bekommen. Das US-Versprechen dafür lautete: Nur für ein Jahr. Inzwischen sind es zwölf Jahre. Man kann also schon verstehen, daß die Russen dahinter so etwas wie eine Strategie vermuten.

Im Süden ist Rußland von einem Gürtel von US-Basen umgeben, im Westen ist die Nato in sechs ehemalige Warschauer Pakt-Staaten und drei ehemalige Sowjetrepubliken vorgerückt.

Masala: Man kann sicherlich sagen, daß es das strategische Ziel der USA ist, Rußland auf Rußland zu beschränken, während sie selbst als globale Macht agieren. Die Frage ist aber nicht, ob das gerecht ist, sondern ob die USA das durchsetzen können oder nicht.

Was ist für Deutschland besser, ein schwaches Rußland und eine globale USA oder eine Balance der beiden Mächte?

Masala: Nach meiner Meinung eindeutig eine Balance. Ein saturiertes Rußland ist viel besser für die globale und eurasische Stabilität als ein schwaches Rußland, das stets auf Revision aus sein wird – was ja auch die Ursache für die gegenwärtige Krise ist.

Allerdings könnte ein starkes Rußland unerfreuliche Ambitionen entwickeln.

Masala: Das ist nicht zu befürchten, da Rußland eine Großmacht auf dem absteigenden Ast ist. Rußlands Wirtschaft beruht fast nur auf Gas. Wenn Alternativen dazu aufkommen, hat Rußland ein enormes Haushaltsproblem. Und demographisch sind auch die Russen eine alternde und schwindende Gesellschaft, konfrontiert mit einer massiven chinesischen Einwanderung. Alles spricht dafür, daß Europas Problem der Zukunft ein zu schwaches Rußland sein wird.

Und wie ist die Krim-Krise zu lösen?

Masala: Rußland wird den Platz, den wir ihm in Europa zuweisen, nicht akzeptieren, solange wir die von Moskau beanspruchte Einflußsphäre – Stichwort ehemalige Sowjetrepubliken –, die es als sein legitimes Sicherheitsinteresse betrachtet, nicht respektieren. Solange wird sich das Verhältnis zu Rußland nicht bessern.

 

Prof. Dr. Carlo Masala, der Sicherheitsexperte ist immer wieder gefragter Gesprächspartner in den Medien, etwa der Tagesschau oder des Deutschlandfunks. Der ehemalige stellvertretende Direktor der Forschungsabteilung des Nato-Defence-College in Rom ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Er lehrt außerdem an der Ludwig-Maximilians-Universität und an der Hochschule für Politik in bayerischen Landeshauptstadt und hatte Gastprofessuren in den USA, Großbritannien, Italien und weiteren Ländern inne. Seit 2007 ist er Inhaber eines Lehrstuhls an der Bundeswehruniversität und seit 2011 Dekan der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften. Masala publizierte mehrere Lehrbücher, wie „Internationale Sicherheit: Eine Einführung“ oder das „Handbuch der Internationalen Politik“, und wird der Schule der Neorealisten zugeordnet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theorie der internationalen Politik, internationale Sicherheitspolitik und die transatlantischen Beziehungen. Geboren wurde der Politikwissenschaftler 1968 in Köln.

Foto: Mutmaßliche russische Soldaten auf dem Vormarsch auf der Krim: „Es geht nicht darum, ob es gerecht ist, sondern darum, wer welche Interessen hat und welche Mittel, um sie durchzusetzen“

 

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