© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Pankraz,
J. Gotthelf und die Schweiz als Gast

Die Schweiz ist das diesjährige „Gastland“ auf der Leipziger Buchmesse, aber sie ist ein Gast wider Willen. „Wir können uns doch nicht zu uns selbst einladen“, sagen die Schweizer Autoren und Verleger, „wir sind hier nicht Gäste, wir sind fester Bestandteil der deutschsprachigen Literatur, kein bloßer Farbtupfer, den man leicht vom Ganzen separieren könnte. Ohne uns wäre diese Literatur nicht die, die sie ist.“

Recht haben sie. Ohne Johann Jakob Bodmer gäbe es keinen Christoph Martin Wieland, ohne Lavater keinen jungen Goethe, ohne Rousseau keinen Jean Paul, ohne Heinrich Pestalozzi keine deutsche Reformpädagogik, ohne Gottfried Keller keinen realistischen deutschen Bildungsroman. Friedrich Nietzsche, einst als Deutschlands jüngster Philologieprofessor von Leipzig nach Basel berufen, nannte den dort waltenden einheimischen Kulturhistoriker Jacob Burckhardt voll liebender Begeisterung „unseren großen, größten Lehrer“, dem es nachzustreben und mit dem es zu respondieren gelte.

Tatsächlich ist das Lehrhafte, der pädagogische Eros, ein sofort wahrnehmbares, nicht wegzudenkendes Charakteristikum der Schweizer Literatur. Aber nichts unangenehm Besserwisserisches ist damit verbunden, kein penetrant erhobener Zeigefinger, nicht die Spur von Rohrstockgesinnung. Vielmehr drückt sich darin ein ausgeprägter Wirklichkeitssinn aus, eng verbunden mit Volksbezogenheit und urdemokratischer Diskussionsfreudigkeit, ein nüchtern vernünftiger Gemeinsinn, der über die begrenzte Reichweite allgemeiner Regeln und Übereinkünfte genau Bescheid weiß.

Müßte man einen Grundzug des Schweizerischen Volksgeistes und der ihn ausdrückenden Schweizer Literatur benennen, so würde man wohl sagen: „Dauerblick auf das Große im Kleinen und das Kleine im Großen.“ Gottfried Kellers Leute im winzig kleinen Seldwyla korrespondieren eigentümlich mit Martin Salander, der schweizerischen Titelfigur seines unvollendeten Altersromans, eines internationalen Großgeschäftemachers, der seine Reichtümer vor allem im fernen Brasilien erwirbt und sie auch dort wieder verliert.

Seldwyla und Rio de Janeiro bei Keller können unterschiedlicher nicht sein, die Differenz ist nicht nur äußerlich-gestaltmäßig, sondern reicht tief in die Seelen und Bewußtseinslagen aller Beteiligten hinein. Indes, die jeweiligen Größenverhältnisse werden regelrecht ignoriert, das fällt aufmerksamen Lesern sogleich auf. Nicht nur für Gottfried Keller, sondern für die Schweizer Literatur insgesamt gibt es keine kulturelle oder gar moralische Einteilung in hoch oder tief, Metropole oder Provinz, Dorfschule oder Eliteuniversität.

Wahrscheinlich hängt das mit der geographischen Gestalt des Landes zusammen. Es ist flächenmäßig klein, aber üppig von hohen und kapriziösen Gebirgen durchzogen; was an ebenen Strecken fehlt, machen die Distanzen zwischen den hohen Bergen hier, tiefen Tälern dort wieder wett. Im übrigen hat das Alpenhafte des Landes kaum Spuren in seiner Literatur hinterlassen. Jahrhundertelang galten die Hochgebirge als existentielles und literarisches Anathema, als abscheuliche „Geschwüre der Erde“ (tumores terrarum), wie der schweizerische Minnesänger Johannes von Hadlaub einst im Mittelalter formulierte.

Noch zur Goethezeit war das so, trotz Albrecht von Hallers gravitätischem Lehrgedicht „Die Alpen“ von 1729. Erst im Gefolge der Romantik änderte sich die allgemeine Einstellung allmählich, wenn auch kaum bei den Schweizer Autoren selbst. Nicht etwa der lebenserfahrene Berner Pastorensohn und Bauerndichter Jeremias Gotthelf wurde zum Lobredner der Alpen, sondern der Münchner Luxusbürger und Gemsenjäger Ludwig Ganghofer, indem er – neben der Schönheit der Berge – auch die „Reinheit“ und „ursprüngliche Sittlichkeit“ des alpenländischen Lebens pries. Gotthelf wußte es besser.

In der Gestalt des großen Erzählers und Moralisten Jeremias Gotthelf gab sich allerdings früh schon eine bedrohlich heraufziehende Gefahr für den Fortbestand der Schweizer Literatur kund. Denn weite Strecken des Gotthelfschen Werkes sind in sogenanntem „Schwyzerdütsch“ abgefaßt (in „alemannischer Mundart“, wie es zu Gotthelfs Zeit hieß), und das scheint heute bedrohlich Schule zu machen. Immer mehr einflußreiche Kräfte, vor allem aus der Schweizer Industrie- und Finanzwelt, wollen die deutsche Hochsprache als Pflichtfach vollständig aus den Schulen verbannen und sie dadurch faktisch abschaffen.

An die Stelle des Hochdeutschen soll nach den Plänen dieser Leute künftig Englisch treten, und als „Nebensprache“ soll außer Französisch und Italienisch nur noch Schwyzerdütsch unterrichtet werden. Das, so heißt es, schaffe „Effizienzsteigerung“ und „globale Kompatibilität“, es diene nicht nur der heimatlichen Industrie, sondern auch den vielen Mitarbeitern in den zahlreichen internationalen Organisationen. die in der Schweiz angesiedelt sind. Und letztlich sei es ja auch im Sinne der deutsch-schweizerischen Bevölkerungsmehrheit, die doch nur noch Schwyzerdütsch spräche.

Nach Literatur fragt in solchen Kontexten natürlich niemand, und so könnte es passieren, daß der deutschsprachigen Literatur demnächst das Totenglöcklein ertönen wird. Da hülfe dann kein Hinweis auf selbstverständliche Zugehörigkeit oder sogar Vorbildlichkeit mehr, die Schweiz würde wirklich zum bloßen Gastland auf deutschen Buchmessen.

Kein Literaturfreund würde dann wohl mehr mit Leidenschaft darüber nachsinnen, wer denn nun besser sei, Max Frisch oder Heinrich Böll, wer klüger, Adolf Muschg oder Günter Grass, wer experimenteller, Hermann Burger oder Helmut Heißenbüttel. Ungerührt weggekehrt würde wieder einmal viel von dem, was Literatur eigentlich ausmacht: die semantische Erkundung jener Möglichkeiten zwischen bloßem Kalkül und plattfüßiger Spontaneität, aus denen erst jede wahre Kultur erwachsen kann.

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