© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Mitten ins Herz getroffen
Auf dem Weg zu einer geschlossenen Gesellschaft: Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff beschwört mit einer antimodernen Rede über Geburt und Tod einen Mediensturm der Entrüstung herauf
Markus Brandstetter

Albert Einstein hat einmal gesagt: Gott würfelt nicht. Damit wollte er ausdrücken, daß es im Kosmos wie in der Physik eine notwendige Ordnung gibt, die sich nicht außer Kraft setzen läßt, auch wenn Menschen – Einstein zielte auf die Quantenphysiker ab – es noch so oft versuchen. Die amerikanische Publizistin Peggy Noonan hat mit einem anderen Vergleich kürzlich dasselbe gesagt, als sie schrieb, daß immer mehr Menschen sich heutzutage so fühlten wie ein Tennisspieler, der von einer Maschine Bälle zugeschossen bekommt. Am Anfang versucht er, jeden Aufschlag zurückzubringen, aber Tempo und Kraft der Maschine sind zuviel für ihn. Irgendwann gibt er auf.

Noonan betonte, daß viele Menschen, die in einem Weltbild mit festen Werten und Regeln aufgewachsen sind, sich heute so fühlen, als würden sie andauernd beschossen werden. Diese Menschen dachten, daß die Werte und Normen, die sie in der Familie und auf Schulen und Universitäten gelernt hatten, ihr Leben lang gelten würden. Und nun stellen sie fest, daß vieles, woran sie glaubten: Glaube und Religion; Moral und Tugend; Ehe, Kinderziehung und Familienleben; Recht und Unrecht sich zwischenzeitlich stark verändert, in Luft aufgelöst oder in ihr Gegenteil verkehrt haben. Der gesellschaftliche Konsens, der dem Leben der Menschen noch vor zwanzig, dreißig Jahren ganz selbstverständlich zugrunde lag, existiert nicht mehr.

Aggressive Umwertung aller Werte

An seine Stelle ist eine aggressive Umwertung aller Werte getreten, eine von Journalisten, Fernsehphilosophen, Talkshow-Moderatoren und Internet-Bloggern propagierte Gegenkultur, die den systematischen Regelverstoß, die Verneinung der Geschlechterunterschiede, die Umkehr von Täter und Opfer, die Abwertung von Bildung, Talent und Persönlichkeit und die Aufhebung von Religion und positiver Ethik zur neuen und einzigen Norm erhoben hat. Diese Gegenkultur, die ganz bewußt den Bruch mit Geschichte, Glaube und Tradition zelebriert, beherrscht heute mühelos den Diskurs in Medien und Internet, in Schulen und Universitäten, in Forschung und Wissenschaft, Kultur- und Sozialpolitik.

Obwohl die Vertreter dieser Gegenkultur sich stets liberal, mitfühlend und tolerant geben und so tun, als gälte ihre ganze Sorge dem Wohl der Armen, Schwachen und Ausgegrenzten, sind sie in Wahrheit autoritär, engstirnig und ohne positive Werte. Ihr einziges Interesse gilt dem Diskurs, den Möglichkeiten, ihn zu beherrschen, und den Sanktionen, die sie all denen auferlegen, die gegen die von ihnen verordnete Scheinharmonie und die Kultur des „Anything goes“ verstoßen. Verschleiert durch die rhetorischen Figuren einer mitfühlenden Betroffenheit, offenbart sich dahinter nichts anderes als der nackte Wille zur Macht.

Wie es einem ergeht, wenn man gegen Grundfesten dieser neuen Weltanschauung verstößt, mußte jetzt die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erfahren. Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, ist Verfasserin bedeutender Romane, die mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wurden, unter anderem voriges Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis, der als die höchste literarische Auszeichnung in Deutschland gilt.

Am zweiten März nun hat sie im Staatsschauspiel Dresden eine Rede gehalten, die den Titel „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“ trug. Als das Manuskript der Rede veröffentlicht wurde, begann ein wahrer Mediensturm der Entrüstung gegen die Schriftstellerin. Sibylle Lewitscharoff wurde als „Herrenreitern des Kleingeists“ und „Frau Doktor Frankenstein“ bezeichnet, der Inhalt ihrer Rede als „gequirlter Stuß“ und allgemein als „menschenverachtend, herrisch, gefühlskalt, reaktionär und ressentimentgeladen“ abqualifiziert. Der Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden und ihr Verlag, Suhrkamp, haben sich öffentlich von ihr distanziert. Was ist da genau passiert?

Zuerst einmal muß man verstehen, daß Sibylle Lewitscharoff sich eingangs zur christlichen Religion bekannte, die ihr von ihrer Großmutter, einer einfachen, religiösen und eben deswegen guten, liebenswerten und lebenslang zuversichtlichen Frau, als Kind vermittelt wurde. Die Gestalt der Großmutter setzt die Dichterin in scharfen Gegensatz sowohl zu ihrem Vater, der Selbstmord beging und sie und ihre Mutter allein, unversorgt und bitter zurückließ, als auch zu ihrer Mutter, die nach einer Krebserkrankung zornig, unversöhnt mit sich und der Welt als „rebellische Wutperson“ starb.

Aus diesen Erfahrungen hat Lewitscharoff den Schluß gezogen, daß sie selber mit der trostreichen Vorstellung einst sterben wolle, „an einem höheren Ort von einer höheren Macht erkannt zu werden“, wo sie für ihre Sünden geradestehen müsse, weil jedes Leben auch Schicksal und „eine vollständige Selbsterkenntnis nicht möglich sei.“

Von dieser weltanschaulichen Warte aus hat Frau Lewitscharoff dann die Eingriffe der modernen Medizin in Geburt, Sterben und Tod kritisiert. Die Schriftstellerin hat daran erinnert, daß die moderne vorgeburtliche Diagnostik Eltern, insbesondere aber alleinstehenden Müttern, oft mehr Verantwortung aufbürdet, als diese verkraften. Wird ein gesundes Kind wegen einer Fehldiagnose abgetrieben, belastet dies die Eltern ein Leben lang. Dem wird kaum jemand widersprechen.

Deutlich schärfer gehalten war Lewitscharoffs Kritik an der künstlichen Befruchtung, insbesondere dann, wenn alleinstehende Frauen und lesbische Paare sich Spermien anonymer Spender mit vermeintlichen Traumeigenschaften aus dem Katalog bestellen. Lewitscharoff hat diese Praxis der künstlichen Befruchtung als ein „abscheuliches Fertilitätsgemurkse“ bezeichnet, die dafür notwendige Masturbation der Samenspender als „absolut widerwärtig“.

Wüste Beschimpfungen und Rufmord

Das sind drastische Worte, die allerdings mißverstanden wurden, denn Frau Lewitscharoff hat weder die künstlichen Befruchtung noch die Selbstbefriedigung per se verdammt, geschweige denn irgend etwas verbieten wollen. Sie hat nur gesagt: Ein Kind, das so auf die Welt kommt, ist anders als eines, das auf natürliche Weise gezeugt und geboren wurde, und das kann Kind und Eltern ein Leben lang belasten, was den Frauen, die eine schöne neue Welt mit Kindern ohne Väter haben wollen, oft gar nicht bewußt ist.

Problematisch ist der Teil von Lewitscharoffs Rede, in dem sie Kinder, die durch künstliche Befruchtung entstanden, als „zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“ bezeichnete. Das trifft keineswegs zu. Im Reagenzglas gezeugte Kinder sind keine künstlichen Homunculi, sondern selbstverständlich Menschen wie alle anderen auch.

Es ist klar, daß Sibylle Lewitscharoff hier durch zugespitzte Formulierungen provozieren und zum Nachdenken anregen wollte und wohl mehr halbe Familien als halbe Menschen im Sinn hatte, aber die von ihr gewählten Ausdrücke sind unglücklich und der Vergleich von modernen Fruchtbarkeitskliniken mit den Lebensborn-Heimen des Nationalsozialismus ist falsch. Inzwischen hat sie sich dafür entschuldigt.

Alles in allem hat Sibylle Lewitscharoff eine mutige, kantige und widerspenstige, aber auch sehr persönliche Rede gehalten, in der sie dem Zeitgeist massiv widerspricht. Die Quintessenz ihrer Gedanken ist antimodern, aber weder skandalös noch verstörend, geschweige denn faschistoid. Frau Lewitscharoff hat nämlich nur gesagt: Nicht alles, was die moderne Medizin in bezug auf Leben und Tod kann, darf und soll unterschiedslos angewandt werden, bloß weil eine Huxleysche Spaßgesellschaft das so will. Geburt, Leben und Tod werden glücklicher, sinnhafter und erfüllter erfahren, wenn sie eingebettet werden in Religion, Tradition und Kultur, also in eine sinnvoll geordnete Welt, womit wir wieder bei Einstein wären.

Die bösartigen Reaktionen auf Lewitscharoffs Rede kann nur verstehen, wer begreift, daß die Schriftstellerin mit ihren Aussagen die modernistische Gegenkultur mitten ins Herz getroffen hat. Daß eine solche Kritik am zeitgeistigen Scheinkonsens über Nacht in Rufmord, wüste Beschimpfungen und den Ruf nach Sanktionen („Lest ihre Bücher nicht mehr, gebt ihr keinen Preis mehr!“) ausarten kann, widerlegt mühelos die andauernd behauptete These von der aufgeklärten Offenheit der heutigen Gesellschaft.

Foto: Sibylle Lewitscharoff: Nicht alles, was moderne Medizin kann, darf und soll angewandt werden

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