© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Die Kluft wächst
Protestantismus: Eine Mitgliederstudie der Evangelischen Kirche in Deutschland belegt den Riß zwischen engagierten und distanzierten Christen
Gernot Facius

Der überzeugte Lutheraner Hans Apel, Minister unter Helmut Schmidt, hat 2003 in einem Buch beschrieben, wohin der deutsche Protestantismus aus seiner Sicht tendiere: zu einer Volkskirche ohne Volk. An dieser Voraussage wurde viel herumgemäkelt, aber elf Jahre später kommen die EKD-Verantwortlichen nicht umhin zuzugeben, daß der Traditionsabbruch dramatische Ausmaße angenommen hat: Die Kirche Luthers verkümmert zu einer „Seniorenkirche“.

Es bleibt zwar ein stabiler Kern bewußter und engagierter Christen, vor allem aus dem evangelikalen Spektrum, aber es bricht die Mitte weg, eine, wie das Kirchenamt in Hannover kommentierte, „milde, gemäßigte Form der Frömmigkeit und Kirchenverbundenheit – die sogenannte Mehrheitsreligion, auf die unsere Kirche weithin ausgelegt ist“. Lediglich 22 Prozent der 14- bis 21jährigen Mitglieder fühlen sich der Kirche verbunden, bei den über 66jährigen hingegen sind es 58 Prozent, entsprechend ist die Bereitschaft zum Austritt bei der jungen Generation am höchsten. Resümee der fünften EKD-Mitgliederstudie, für die 3.000 Personen repräsentativ befragt wurden: Die „Jungen Alten“ sind für die Kirche von wachsender Bedeutung.

Nur noch knapp die Hälfte der Kirchenmitglieder unter 30 Jahren befürwortet eine religiöse Erziehung ihrer Kinder, ein Leben ohne Religion erscheint als selbstverständlich, folglich sinkt in den Familien die Bereitschaft zur Weitergabe des Glaubens. Fast jedem zweiten Mitglied kommt der Kirchgang „nicht einmal mehr als sporadische Möglichkeit in den Sinn“. Was das für die Zukunft der EKD bedeutet, liegt auf der Hand: Es schrumpft auch das Nachwuchspotential für die engagierte Senioren-Gruppe. Aus Kirchendistanzierten, so hat der EKD-Cheftheologe Thies Gundlach erkannt, werden „Übergangsmitglieder ins Konfessionslose“.

An den Erwartungen einer markanten Mehrheit vorbei

Das alles erinnert an den Satz des bekannten evangelischen Tübinger Theologen Eberhard Jüngel (79) in einem Welt-Interview, es sehe so aus, als sei die Volkskirche „nur noch eine Kirche für das Volk, das nicht zur Kirche geht“. Daß der Anteil Evangelischer, die sich ihrer Kirche „sehr“ verbunden fühlen, von 11 Prozent im Jahr 1992 auf 15 Prozent im Jahr 2012 gestiegen ist, ändert daran offenbar wenig. Denn es ist auch der Anteil derer gewachsen, die sich ihrer Kirche „überhaupt nicht“ verbunden fühlen: von 9 auf 14 Prozent.

Die EKD zeigt sich ratlos. Der 2006 von dem damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber (71) eingeleitete Prozeß „Kirche im Aufbruch“ hat wenig gebracht. Zaghaft wird gefragt: „Hängt die Zukunft der Kirche daran, daß sie ihre Kompetenz in genuin religiösen Fragen stärker sichtbar macht?“

Auch darauf findet sich in der Mitgliederstudie eine Antwort. Zwar ist die Zustimmung zur Neigung der Kirche, sich zu politischen Grundsatzfragen zu äußern, seit 2002 von 22 auf 47 Prozent im Jahr 2012 gestiegen, aber gleichzeitig wünschen sich 75 Prozent ihre Kirche als Raum für Gebet, Stille und Besinnung (gegenüber 68 Prozent 2002). Existentielle Fragen wie die nach einem gelingenden Leben und dem Tod haben für die Identifikation mit der Kirche eine höhere Bedeutung als gesellschaftspolitische Themen. Mithin ist die Frage berechtigt, ob die Kirche an den Erwartungen einer markanten Mehrheit der Mitglieder vorbeigeht.

Doch noch wichtiger ist die Frage, ob die EKD-Spitze bereit ist, weniger „Orientierungshilfen“ wie jüngst die zeitgeistige zur Familienpolitik (JF berichtete mehrfach) und Polit-Papiere zu produzieren und sich dafür mehr den genuin religiösen Themen zuzuwenden. Wenn nicht, kann sie bald auf soziologische Analysen getrost verzichten.

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